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Ich, Gina Wild

Ich, Gina Wild

Titel: Ich, Gina Wild
Autoren: Michaela Schaffrath
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Beobachter, und ich hatte schnell die Schwachstellen meiner Eltern entdeckt. Daraus entwickelte ich eine Strategie des Terrors, die ich gnadenlos anwandte, wenn etwas nicht so ging, wie ich mir das vorstellte. Ich habe angefangen zu schreien und herumzustampfen. Wenn das nichts nutzte, hielt ich die Luft an, bis ich knallrot im Gesicht war. Das war die äußerste Maßnahme, zu der ich griff.
    Sie wirkte immer.
    Einmal hat mein Vater bei einem meiner gemeinen Erpressungsversuche die Nerven verloren, mich hochgerissen, wie ein Kissen geschüttelt und mich angebrüllt. Er war wie von Sinnen vor Angst, es könnte etwas geschehen. Im Nachhinein tut es mir Leid, dass ich meinen Eltern das angetan habe.
    In gewisser Weise zeigte sich wohl schon damals, dass ich einen starken Willen habe. Zwar noch unkontrolliert, aber mächtig. Ein Wille, der mich später aus meinem durchschnittlichen Leben reißen und in eine bizarre Welt katapultieren sollte, in der ich ungeahnte Höhen und Tiefen erleben, aber auch intensive Befriedigung finden würde.
    Mein ganzer Stolz als Kind war mein Barbie-Haus. Ich hatte allerlei Kram aus der Barbie-Kollektion, doch das selbstgebaute Puppenhaus, das mein Vater mir gebastelt hatte, überragte mit seinen gut eineinhalb Metern Höhe alles, was man sich als Kind vorstellen kann. Mein Vater arbeitete als Maurer. Mit seinem handwerklichen Geschick baute er mir das Haus und die Möbel für die verschiedenen Räume.
    Meine Barbie hatte natürlich auch ein Pferd. Ich war vernarrt in Pferde, verschlang Bücher über Pferde, schaute alle Filme, in denen Pferde vorkamen und fühlte mich fast wie verwandt mit diesen Tieren. Es ist wohl nichts Ungewöhnliches daran, dass man als Mädchen von Pferden fasziniert ist, doch ich war von diesem Pferdewahn dermaßen heftig infiziert, dass meine erste reale Begegnung mit einem Pferd eine böse Erschütterung in mir auslöste.
    Wir machten Urlaub in Rheinland-Pfalz auf einem Bauernhof bei Kaiserslautern. Dort gab es eine Pferdekoppel. Und als ich endlich vor diesen gewaltigen, schnaubenden Tieren stand, begriff ich, dass ich gar nicht in der Lage war, ein Pferd zu reiten, so wie ich es aus meinen Büchern und Filmen kannte. Ich kann nicht reiten! Erst da schoss es in mein Bewusstsein, dass man eine Ausbildung braucht, bevor man diese wilden Kreaturen beherrscht. Eine ohnmächtige Enttäuschung überkam mich. Und vielleicht sickerte allmählich die Erkenntnis durch mein junges Hirn, dass man sich mühevoll zu seinen Zielen durchkämpfen muss.
    Komischerweise habe ich nie daran gedacht, meine Eltern um Reitstunden zu bitten. Vielleicht, weil ich wusste, dass so etwas sehr teuer war. Und vielleicht wollte ich viel lieber meine Zeit mit meinen Freunden verbringen, als mit Pferden.
    Da war der Umgang mit meinen Stofftieren wesentlich bequemer. Mein liebster Gefährte hieß Lulatsch. Mein langer brauner Schlafhund mit Schlappohren. Wenn ich heute nach Hause zu meinen Eltern komme, liegt er noch immer in meinem alten Kinderzimmer und sieht mich aus seinen ausgeleierten Knopfaugen treuherzig an. Jahrelang bin ich mit ihm eingeschlafen. Im Winter zog ich ihm ein Jäckchen an, damit ihm nicht kalt war.
    Bei der Einschulung war ich fürchterlich aufgeregt. Nicht wegen der Schule, sondern wegen meiner Brille. Ich schämte mich vor den anderen Kindern dafür. Sie hatte ein mächtiges schwarzes Gestell, und Gläser so dick wie Aschenbecher. Ich sah aus, als hätte ich riesenhafte Glubschaugen.
    Seit meinem dritten Lebensjahr bin ich damit herumgelaufen. Diese Brille trug ich bis ich 17 war. Von meinem allerersten Geld kaufte ich mir Kontaktlinsen. Ich weiß bis heute nicht, warum mir meine Eltern nicht schon früher Kontaktlinsen besorgt haben, sie merkten doch wie ich unter diesem Brillenmonster litt. Wahrscheinlich hatte der Optiker ihnen davon abgeraten. Jedenfalls habe ich bei jeder Gelegenheit, die sich bot, meine Brille abgenommen, zumindest dann, wenn meine Eltern außer Sichtweite waren. In der Schule konnte ich sie natürlich nicht wegstecken, ich musste ja dem Unterricht folgen. Aber sobald die Pausenglocke schrillte, verschwand das Ding in meinem Schulranzen.
    Es gibt noch ein Exemplar dieser Brillen. Manchmal, zu Hause vorm Fernseher, setze ich es auf. Seltsamerweise ertappe ich mich in letzter Zeit dabei, wie ich Gefallen am Brillentragen entwickle. Kürzlich habe ich mir drei elegante Gestelle ausgesucht.
    Essen hat bei uns in der Familie immer eine große Rolle
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