Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich, die Chronik

Ich, die Chronik

Titel: Ich, die Chronik
Autoren: Vampira VA
Vom Netzwerk:
Atitla rief es, und ihr Bruder Tumul war ans Fenster gehastet, um dort draußen nach der Ursache der Explosio-nen zu forschen. Mit flackerndem Blick und zitternden Lippen wandte er sich nun seinen Geschwistern zu, die schon ein anderes Ereignis in unerträgliche Anspannung versetzt hatte.
    »Nichts zu erkennen - nichts, was eine Erklärung liefert . Wir müssen die fremde Sicht einsetzen, sofort! Wir alle!«
    Cuyo bemerkte, wie Atitla, Oriente und Peten ebenso wie Tumul selbst ihre Augen schlossen, um dessen Aufforderung zu folgen. Es diente der Konzentration, die eigenen Lider zu senken, wenn die fremde Sicht aktiviert wurde. Diese Art des Sehens bedeutete, daß man sich die Augen derer zu eigen machte, die man im Laufe der Zeit mit seinem Keim initiiert hatte. Jeder sterbliche Maya, der im Schatten des Palastes lebte, besaß diesen magischen Abdruck im Blut, den er gleich nach seiner Geburt von einem der acht Tyrannen erhalten hatte, die über die Hermetische Stadt herrschten.
    Inzwischen, dachte Cuyo düster, sind wir nur noch sechs. Und wo, beim Weltenpfeiler, steckt Pomona ...?
    Es beschäftigte ihn nicht weiter, obwohl er sich nicht an der hektischen Suche seiner Geschwister nach Erklärungen beteiligte. Während immer neue Detonationen erschollen, glitt sein Blick durch diesen Raum und tastete das Ding ab, das sich wie ein dunkler Panzer um die Frau geschlossen hatte, der sie im Auftrag ihres Hohen Vaters hatten vorgaukeln müssen, sie sei ihre Mutter.
    Unsere Mutter, deren Schoß wir einst entsprangen, dachte Cuyo angewidert. An seine wirklich Mutter hatte er keinerlei Erinnerung, obwohl er erst im Alter von fünf Jahren die Kelchtaufe empfangen hatte. Aber irgendwie hatte sein Gedächtnis alle Bilder, die mit seinem Vorleben als sterblicher Mensch zusammenhingen, im Laufe der Jahrhunderte getilgt.
    Spurlos.
    Auch wenn nicht auszuschließen war, daß sich noch Erinnerungen in der Tiefe seines Bewußtseins verschanzten, so wurde er doch niemals - auch nicht in seinen Träumen - davon belästigt.
    Während seine Brüder und Schwestern nach denen forschten, die den Anschlag auf sie verübten, ließ Cuyos Blick das kokonartige Gebilde nicht mehr los, unter dem sie vermutlich den Schock zu verdauen versuchte, daß ihre eigenen »Kinder« versucht hatten, sie umzubringen. Das Pfeilgift kreiste noch in ihrem Blut. Cuyo und seine Geschwister hatten die Abwesenheit ihres Hohen Vaters ausnutzen wollen, um die mißliebige Frau namens Lilith aus dem Weg zu räumen. Sie wollten sich nicht länger verstellen müssen, zumal ihnen die Gründe dieser Farce vorenthalten wurden!
    Anschließend hatten sie Liliths Tod denen in die Schuhe schieben wollen, auf deren Konto schon der feige Mord an Zapata ging. Und Chiquel . nun, er war durch Cuyos Hand umgekommen, weil er sich vor Lilith gestellt hatte. Er hatte einen Narren an ihr gefressen, weil sie ihn gegen die Strenge des Hohen Vaters in Schutz genommen hatte, schon unmittelbar nach ihrer Ankunft hier in Mayab ...
    Cuyo hegte keinerlei Gewissensbisse wegen des Brudermordes. Er hatte kein Gewissen. Wer sich ihm in den Weg stellte, ganz gleich ob hoher oder niederer Herkunft, mußte dies mit seinem Leben bezahlen. Er war zum Herrschen geboren. Kompromisse lagen ihm nicht.
    Und deshalb war er es, der vielleicht am meisten unter der Rückkehr des Kelchmeisters litt.
    Er hätte fortbleiben sollen, geisterte es durch sein Hirn. Alles war gut, alles hatte seine Ordnung, bis er wiederkam - nach einer halben Ewigkeit -und uns behandelte wie ... unmündige Kinder ...!
    Ein Aufschrei riß seine Gedanken aus der Abwesenheit.
    »Ich sehe sie mit Sprengstoff hantieren!« kreischte Peten auf. »Hier im Palast! Ich erkenne den Raum! Schnell - folgt mir!«
    Ohne abzuwarten, ob die anderen auch wirklich aus ihrer Halbtrance erwachten, stieß sie Tumul, der immer noch vor dem Fenster stand, beiseite, kletterte auf den Sims und stürzte sich in die Tiefe.
    Cuyo brauchte sich nicht zu vergewissern; es war klar, daß seine Schwester im Fall ihre Flügel entfaltete und ihren Körper den neuen Anforderungen unterordnete.
    Nach und nach folgten ihr Tumul, Atitla und Oriente. Letztere hielt noch kurz auf dem Sims inne und rief Cuyo zu: »Was ist mit dir? Willst du nicht auch -?«
    »Ich komme nach!« unterbrach er sie grob. »Ich habe hier noch etwas zu erledigen!«
    Oriente machte eine abfällige Geste. Dann war auch sie verschwunden.
    »Jetzt sind wir allein«, seufzte Cuyo, der sich neben der dunklen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher