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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle
Autoren: Jürgen Ebertowski
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dir gewollt? Die
sahen ja aus wie von der Polente.«
    Edith schloss die Tür. »Keine Polizei.
Das waren Kontrolleure von den Elektrizitätswerken. Sie hatten einen anonymen
Hinweis erhalten, dass ich meinen Stromzähler mit dem ›Kleinen Gustav‹
manipuliere.«
    »Und? Hast du?«
    Edith kicherte. »Klaro, aber nicht heute.
Das Gerät war irgendwie defekt geworden. Anstatt den Zähler in rückläufige
Bewegung zu versetzen, hat es ihn nach vorne bewegt. Deshalb habe ich es
gestern zur Reparatur gebracht. – Schwein gehabt. Wenn die mich mit dem Teil
erwischt hätten, wär’s teuer geworden.«
    Über das nützliche kleine Gerät, das
durch bloßes Auflegen auf den Zählerkasten die Stromkosten eines Bewag-Kunden
immens zu senken vermochte, sang man überall in Berlin bereits ein Lied:
    »Kenn’n Sie den ›Kleinen Gustav‹? Wenn
ja, dann sag’n Sie’s der Bewag nicht. Rückwärts und ohne Fehler dreht sich der
Zähler, und Sie hab’n Licht.«
    »Und wer könnte dich angeschwärzt haben?«
    »Keine Ahnung. – Na, jedenfalls lasse ich in Zukunft
die Finger von dem Teil. Wenn die von der Bewag einen auf dem Kieker haben,
schauen sie bestimmt wieder vorbei. Benutzt ihr eigentlich einen ›Kleinen
Gustav‹?«
    Vera schüttelte den Kopf. »Das wäre viel zu riskant.
Wer wegen Stromklau erwischt wird, fliegt bei den Amis im hohen Bogen raus.«
    Der Schneider in Westend weigerte sich
kategorisch, drei Meter seines besten Samtstoffs für Ostmark wegzugeben, wie
Edith es anfangs vorschlug.
    »Nix da, meene Damen! Wenns mir nämlich
hier zu brenzlich wird, mach ick mir über die Jrüne Jrenze nachm Westen ab. Und
da kann ick die Tapetenmark inner Pfeife roochen.«
    Man einigte sich darauf, den Kaufpreis
teils in Westmark, teils in amerikanischen Zigaretten zu entrichten.
    Es war ein milder Sommerabend. Vor dem
S-Bahnhof Westend stand einer der RIAS-Lautsprecherwagen, die seit der
drastisch eingeschränkten Stromzuteilung quasi zur Hauptinformationsquelle der
West-Berliner Bevölkerung geworden waren. Wie überall umlagerte eine größere
Menschenmenge das Fahrzeug, um erregt über die neuesten RIAS-Nachrichten zu
diskutieren. Auch Vera und Edith blieben stehen. Die U.S. Air Force hatte
wieder die Vortagstonnage an zivilen Hilfsgütern übertroffen.
    Ein Mann neben Vera und Edith begann
spontan zu klatschen und rief: »Na bitte, ick hab’s doch immer jesacht! Besser,
die Russen blockieren Berlin und die Amis versorjen uns, als umjekeht.«
    »Recht hatter! Lieber Trockenmilch und
Eipulver zum Futtern als nischt!«
    Vera und Edith stimmten in das allgemeine
Gelächter ein.
    Mit der Ankündigung, sich in einer Stunde
wieder mit den aktuellen Informationen zurückzumelden, verabschiedete sich der
Nachrichtensprecher von seinen Zuhörern. Die Menschenmenge begann sich zu
zerstreuen.
    Plötzlich stieß Edith Vera an und zeigte
zum S-Bahn-Eingang. »Steht dahinten nicht Birgits Freund?«
    Eine Gruppe Frauen nahm Vera die Sicht.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. »Wo denn?«
    »Jetzt sehe ich ihn auch nicht mehr. – Doch,
jetzt wieder! Vor dem S-Bahn-Eingang. Er steigt gerade mit einem Mann in den
schwarzen Mercedes.«
    Vera nickte. »Ja, das ist Horst
Brandermann.«
    »Und der andere, der mit dem vernarbten
Gesicht?«
    »Kenn ich nicht.« Wieder versperrten ein
paar Leute Vera die Sicht.
    Der Wagen wendete und fuhr langsam an den
Frauen vorbei in Richtung Innenstadt.
    »Wohnt Birgits Freund nicht irgendwo am
Ku’damm? Blöd, wir hätten ihn doch einfach fragen können, ob er uns nicht nach
Charlottenburg mit zurücknimmt«, meinte Edith.
    Vera blickte dem Mercedes wie versteinert
hinterher. Edith rüttelte sie am Arm. »He, was ist denn?«
    »Ein Gespenst«, flüsterte Vera. »Ich
glaube, ich habe eben ein Gespenst gesehen!«

 
    21. Kapitel
    Ein
Feind aus alten Tagen
     
     
     
    Als Vera ins Oriental stürmte,
hatten sich Karl und Benno schon vom Training umgezogen und saßen mit Major
Miller am Tresen. Lilo zapfte für die Männer Biere.
    Karl schaute seine Freundin erstaunt an.
»Hallo, die Dame! Das ist aber eine Überraschung!«
    Benno griente süffisant. »Und wir hatten
uns uff ‘nen jemütlichen, ruhijen Herrenabend jefreut.«
    »Halt mal deene vorlaute Klappe,
Dickerchen«, ermahnte Lilo ihren Gatten. »Die Vera is ja janz uffjereecht. – Is
wat passiert?«
    »Ich habe Kassner in Westend gesehen. Er
saß bei Horst Brandermann im Auto.«
    Lilo ließ den Zapfhahn los. Karl, der
sich gerade eine Zigarette
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