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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle
Autoren: Jürgen Ebertowski
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Schutt und die Ruinen
wegräumen und dann Berlin wieder aufbauen. Jeder, der uns daran hindert, ist
ein Volksfeind, ein gewissenloser Verbrecher an unserer Heimat. Die verdiente
Strafe wird jeden Attentäter, Brandstifter und Plünderer treffen. Sie werden
mit ihrem Leben für ihre Untaten büßen.«
    ›Falls man sie fasst‹, dachte Karl
resigniert, denn mit Verbrechen, von Diebstahl bis hin zu Mord, musste man
selbst am helllichten Tage überall rechnen. Dass ein russisches Militärtribunal
wieder drei junge Männer wegen gemeinsamen bewaffneten Straßenraubs zum Tode
verurteilt hatte, schreckte in diesen Zeiten nicht wirklich ab.
    Auf seinem Weg zurück nach Pankow kam er
an einer Buchhandlung in der Badstraße vorbei, deren Schaufensterscheibe
wundersamerweise noch ganz war. Karl betrachtete interessiert die Auslagen. Der
Buchhändler musste die verfemten Autoren die braunen Schreckensjahre über gut
versteckt haben. Döblin, Hesse, Kästner, Heine – sogar Das Kapital schmückte
sein Angebot. Karl betrat das Geschäft und stöberte in den so lange verboten gewesenen
Schätzen. Mit Döblins Berlin Alexanderplatz versehen, setzte er seinen
Heimweg fort.
    Schon von weitem sah er die
Menschentraube in der Florastraße. Als er näher kam, löste sich ein Mann aus
der Menge, die sich gegenüber seinem Haus auf der anderen Straßenseite
angesammelt hatte. Es war der pensionierte alte Lehrer.
    »Ach, Gott sei Dank, da sind Sie ja! Und ich dachte
schon, Sie liegen da drinnen begraben.«
    »Was ist passiert?« Karl musterte die Ruine. Sie
wirkte auf ihn so, wie er sie am Morgen verlassen hatte.
    »Im Hof scheint ein weiterer Hausteil
eingestürzt zu sein. Vor fünf Minuten gab es jedenfalls ein gewaltiges
Krachen.«
    »Drinnen war keiner«, sagte der Alte laut
zu den Umherstehenden. »Der Herr hier wohnte als Einziger noch dort.«
    Die Menschenmenge begann sich daraufhin
aufzulösen.
    Karl presste die Lippen aufeinander. »Im
Hof? Wo denn genau?«
    Der Lehrer zuckte mit den Achseln. »Keine
Ahnung. Es hat sich natürlich niemand da reingewagt. – Wohnen sollten Sie dort
besser nicht mehr.«
    »Ich schau mal nach«, sagte Karl. »Das Vorderhaus hat
offenbar nichts abbekommen.«
    »Lassen Sie das besser bleiben«, ermahnte ihn der
Lehrer.
    »Würde ich liebend gern.« Karl lachte heiser. »Aber
ich muss wenigstens nachsehen, ob von meinen paar Habseligkeiten noch
irgendetwas übrig ist.«
    Vorsichtig balancierte er, angespannt
nach verdächtigen Geräuschen lauschend, über die wackeligen Kellerdeckenbalken
zu seiner Wohnungstür. Die Hausflurwände und auch die Flurdecke sahen aus wie
immer. Nur seine Wohnungstür stand einen Spaltbreit offen. Er erinnerte sich
genau: Bevor er zum Reichstag aufgebrochen war, hatte er sie bestimmt
abgeschlossen. Als er in die Küche trat, wusste er auch, weshalb: Die Plünderer
hatten noch nicht einmal das Feuerholz zurückgelassen.
    Es verkehrten zwar schon wieder vereinzelt öffentliche
Busse und auch einige Straßenbahnen von der Seestraße nach Tegelort. Von Pankow
nach Tempelhof aber fuhr nichts.
    Bei beginnender Abenddämmerung erreichte
Karl mit schmerzenden Füßen die Laubenkolonie am Flughafen, und Benno staunte
nicht schlecht, seinen Freund schon so schnell wiederzusehen.
    »Tja, Karlchen, een Unjlück kommt selten
alleene, aber nu ma erst rin mit dir und trink’n schnellet Bier uff den
Schreck.«
    Karl zog das Hosenbein hoch. Sein
Fußknöchel war dick angeschwollen. »Ich glaube, ich sollte mich besser erst
einmal ein wenig verarzten.«

 
    2. Kapitel
    Captain
Millers Rückkehr
     
     
     
    Am 2. Juli 1945 würden die Sowjettruppen
den Flughafen Tempelhof an US-amerikanische Truppen übergeben und einen Tag später
Einheiten der britischen und amerikanischen Streitkräfte ihre Sektoren in
Berlin besetzen.
    Captain Paul Miller, der designierte
Berichterstatter für The Stars and Stripes in der vormaligen
Reichshauptstadt, flog mit einem mehrköpfigen Vorauskommando nach Tempelhof.
Allen Offizieren in der Maschine war gemein, dass sie das Deutsche recht
passabel beherrschten. Das von Miller war besonders gut. Fünf Jahre, bis einen
Tag vor seinem dreißigsten Geburtstag, war er, dessen Großeltern den
Familiennamen anglisiert und mit ihrem Enkel ausschließlich Deutsch gesprochen
hatten, in Berlin als Journalist akkreditiert gewesen. Außer den Uniformierten
befanden sich noch drei Zivilisten an Bord. Einer fiel Miller wegen der
unmilitärisch langen Haare auf. Sie reichten
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