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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle
Autoren: Jürgen Ebertowski
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Himmel und Menschen.
    »Rasierklingen?«
    »Eier?«
    »Biete Herrenanzug. Bestes Tuch.«
    »Braucht einer Seife oder Schnürsenkel?«
    Karl zwängte sich an einem Trupp
Rotarmisten vorbei. Sie umlagerten neugierig ein Mädchen, das eine Spieluhr
aufzog. Scheppernd ertönte die Melodie »Üb immer Treu’ und Redlichkeit«.
    Karl kannte den Text des Liedes. Die
erste Strophe endete mit den Trost spendenden Worten: »Dann singest du beim
Wasserkrug, als wär’ dir Wein gereicht.«
    Karl presste die Lippen aufeinander. Das
Wasser von der Pumpe in der Florastraße besaß selbst abgekocht einen
metallischen Nachgeschmack, den das muffige Pulver, das sich Ersatzkaffee
schimpfte, nicht abmildern konnte. Sangesfreude hatte Karl bei seinem Morgentrunk
mit Sicherheit nicht verspürt.
    Ein Junge in kurzen Hosen stellte sich
ihm in den Weg und gewährte den Blick in einen Jutesack. »Zucker, der Herr?«,
flüsterte er.
    »Nein. Kennst du jemanden, der Brot hat?«
    »Augenblick, ich hole meinen Vater.«
Wieselflink verschwand der Junge in der Menschenmasse und kam gleich darauf mit
einem einarmigen Mann zurück.
    »Du willst Brot?«
    »Ja.«
    Als der Mann den Geldschein in Karls Hand
sah, schüttelte er den Kopf. »Ich tausche nur gegen Zigaretten.«
    Karl nickte.
    »Drei«, sagte der Mann, »sonst wird
nichts aus unserem Geschäft.«
    Karl ging ohne Widerspruch auf den Handel
ein. Ein schmaler, feuchter Laib wechselte den Besitzer. Karl steckte ihn in
die Brusttasche seiner Anzugjacke. Dreiunddreißig Pfennig betrug der offizielle
Preis, aber Brot gab es nirgendwo frei zu kaufen. Überhaupt reichte alles, was
man auf Lebensmittelkarten erhielt, nicht zum Leben und nicht zum Sterben.
Allenfalls wer über beste Beziehungen zu einem Bäcker verfügte, konnte
vielleicht einen dieser klitschigen, mit Kartoffelschalen gestreckten
Brotklumpen bekommen, wenn er dafür mindestens hundert bis hundertzwanzig Mark
zu opfern gewillt war.
    Karl zählte die übrigen Zigaretten in der
Packung. Es waren sechs.
    Er hielt gerade nach einem bekannten Gesicht
in der Menge Ausschau, als jemand seinen Namen rief. Er drehte sich um und
erstarrte. Dann rannte er los.
    »Mensch, Benno!«
    Die beiden Männer fielen sich vor Freude
in die Arme.
    Benno Hofmann, Karls Freund und
Sportkamerad vom Jiu-Jitsu, wirkte kompakt und fast so wohlgenährt wie eh und
je und machte seinem Spitznamen »Fass-Benno« immer noch alle Ehre.
    »Mensch, Karlchen, det is aber ‘ne dolle Überraschung,
det du doch noch nich die Radieschen von unten betrachtest!«
    »Unkraut vergeht eben nicht so schnell.«
    Benno deutete mit dem Daumen über seine
Schulter in Richtung auf das Skelett des Adlon -Hotels. »Und ick dachte
schon, du wärst da mittenmang hopsjejangen, als der Kasten abjefackelt is.«
    »Das wäre mir auch fast passiert.«
    Benno musterte den Freund neugierig.
»Erzähl mir det mal allet gleich jenauer, aber nich hier. Du schaust ja außer
Wäsche wie’t Leiden Christi. Schiebst wohl kräftich Kohldampf, wenn ick nich
jänzlich falschliege, oder?«
    »Üppig wie früher im Adlon speise
ich augenblicklich eher selten«, antwortete Karl mit einem matten Grinsen.
    »Det sieht man dir deutlich an«, sagte
Benno und hakte ihn unter. »Pass uff! Nich weit von hier hat hinterm Schloss
Bellevue anner Spree schon wieder ‘ne Kneipe uffjemacht, wo man mit Beziehung
ooch ohne Karte wat Ordentlichet futtern kann. Da lad ick dir in.«
    Es war jetzt an Karl, den Freund nachdenklich zu
betrachten. Die SMAD hatte nicht nur gestattet, die intakten Kinos wieder
zu nutzen, wo sogleich russische Filme gezeigt worden waren, sondern hatte auch
erlaubt, Theater, Lokale, Restaurants, Kabaretts und sonstige
Vergnügungsstätten zu öffnen. Überhaupt war das kulturelle Leben gleich wenige
Tage nach der Kapitulation wieder in Gang gekommen. Bereits am 18. Mai hatte im
unzerstörten Sendesaal des Berliner Rundfunks ein Symphoniekonzert mit dem
Orchester der Städtischen Oper stattgefunden. Kino, Theater und Konzerte waren
erschwinglich, aber wer außer Haus etwas essen oder trinken wollte, musste mehr
bieten als die inflationären Reichsmarkfetzen. »Du scheinst ja ordentlich oben
zu schwimmen.«
    »Stimmt. Richtich jammern kann ick nich.
– Is übrijens wat mit deenem Been? Du hinkst ja!«
    »Nicht der Rede wert, bloß verstaucht.«
    Die beiden Freunde hatten sich unterwegs viel zu
erzählen.
    Benno Hofmann war Rausschmeißer in der
Bar Oriental am Kurfürstendamm gewesen, bevor man ihn
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