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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle
Autoren: Jürgen Ebertowski
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Wunderwaffen dicht
bevorstünde. Und immer noch hatte es unverbesserliche Fanatiker gegeben, die
ihm und Hitlers anderen Paladinen vertraut hatten! Die Armee der slawischen
Untermenschen hatte zwar keine Wunderwaffen besessen, aber dennoch den
»Endsieg« über die Herrenrasse wie in einer Schlacht vergangener Zeiten mit
Pferd und Wagen als Haupttransportmittel für Mensch und Material errungen.
    Ein T34 rasselte heran. Die Soldatin hob energisch den
roten Flaggenstab in ihrer rechten Hand. Mit dem weißen in der linken wurde dem
Panzer der Weg über die Kreuzung frei gewunken. Die Frau stand auf einer
Blechtonne, die die Aufschrift »Volkssturm« trug. Karl erinnerte sich nur allzu
gut an diese Tonnen. Man hatte ihn, einen ehemaligen kaiserlichen Offizier, zum
letzten Aufgebot des »Tausendjährigen Reiches« eingezogen. In solchen Tonnen
waren die Volkssturmwaffen ins Adlon geschafft worden, überwiegend
finnische Jagdgewehre oder rumänische Pistolen. Mit diesen exotischen
Schießprügeln hatten die »wehrfähigen« Männer des Hotels – außer Karl noch
weitere ältere Bedienstete, minderjährige Pagen und eine Handvoll
Kriegsinvaliden – die »Festung Adlon« verteidigen sollen. Von wegen
»Festung«! Ein Behelfslazarett war das Haus in den letzten Kriegstagen gewesen,
gefüllt mit Schwerverletzten und Sterbenden, versorgt von einer Handvoll Ärzte,
die ohne Narkose oder steriles medizinisches Besteck operieren mussten.
    Karl Meunier, der seit Hitlers Machtergreifung als Hausdetektiv im
Hotel beschäftigt gewesen war, hatte Verdun, Flandern und den
mörderischen Stellungskrieg in Frankreich überlebt: Er hatte seine zusammengestückelte
Volkssturmtruppe weniger im Häuserkampf oder in der Handhabung der
»Wunderwaffe« Panzerfaust geschult, als vielmehr darin, wie man sich einem
Feind ergibt, ohne dass es dabei zu tödlichen Missverständnissen kommt. Wären
seine defätistischen »Nahkampfübungen« ruchbar geworden, hätte er garantiert
das Schicksal vieler Gleichgesinnter geteilt. Selbst noch am Tag der
endgültigen Kapitulation waren beim geringsten Verdacht auf
»Wehrkraftzersetzung« die Beschuldigten von fliegenden SS-Standgerichten kurzerhand,
zumeist mit einem Schild um den Hals, am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft
worden: »Ich war zu feige, Frauen und Kinder gegen die bolschewistischen
Bestien zu verteidigen.«
    Karl hatte Glück gehabt. Niemand von den Adlon- Volkssturmmännern
hatte ihn denunziert, und die Parteibonzen im Haus waren viel zu sehr damit
beschäftigt gewesen, ihre eigene Haut zu retten. Sie hatten stets lauthals
verkündet, lieber den Heldentod zu erleiden, als die Waffen zu strecken, doch
je bedrohlicher die russische Armee Berlin näher kam und einschnürte, desto
leiser waren die Durchhaltefanatiker geworden. Leiser und unsichtbarer.
Klammheimlich hatten sie sich, einer nach dem anderen, in Richtung Westen
abgesetzt, solange noch Gelegenheit dazu war. Auch Otto Kassner, der
Empfangschef, ein Parteigenosse der ersten Stunde und Karls Erzfeind im Haus,
hatte sich zu guter Letzt davongemacht. Zusammen mit hohen Gestapo- und
SS-Offizieren war er durch den Tunnel geflüchtet, der den provisorischen
Luftschutzraum im Weinkeller mit den Abwasserkanälen unter dem Pariser Platz
verband. Zuvor hatten die Männer – alle in russischen Beuteuniformen – den
Inhalt mehrerer großer Reichsbank-Metallkisten auf ihre Tornister verteilt.
    Kassner! Allein der Gedanke an ihn
versetzte Karl in unbändige Wut. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie der
Empfangschef, um den Fluchtweg zu verschleiern, das Weinkistenlager vor dem
Schutzraum mit Benzin übergossen und angezündet hatte, obwohl überall auf den
Hotelgängen noch Schwerverwundete lagen. Das Hotel Adlon, eines der
wenigen Gebäude im Zentrum der Reichshauptstadt, das sowohl den Bombenregen der
alliierten Luftflotten als auch die finale Offensive der Roten Armee relativ
glimpflich überstanden hatte, war von dem sich in Windeseile ausbreitenden Feuer
bis auf den Gebäudeflügel an der Behrenstraße binnen einer Stunde völlig
zerstört worden. Karl war dem Flammeninferno nur mit äußerster Müh und Not
durch den Ausgang Behrenstraße entkommen und hatte sich dann auf
abenteuerlichen Wegen nach Pankow durchschlagen können. Als Erstes hatte er
noch in dem brennenden Hotelgebäude die Volkssturmarmbinde vom Jackenärmel
abgetrennt und das dänische Jagdgewehr weggeworfen. Zu allem Überfluss war er
auf einer Kellertreppe ausgeglitten
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