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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage
Autoren: Walter Kempowski
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sinken: Im Aquariumkasten seines Gehirns stoben die Fische durcheinander. Wie in einem Stummfilm sah er den Zahnarzt, von Stichen getroffen, gegen den Wäscheschrank taumeln und auf das Bett sinken. Hingestreckt lag er da: Rembrandts «Anatomie».

    Eine Warnanlage muß her, dachte Sowtschick, eine gelbe Drehleuchte über der Tür oder eine Sirene oder beides. Mit Schalter am Bett. Koste es, was es wolle. Beim kleinsten Geräusch einfach drücken das Dings, und dann kommt das ganze Dorf gelaufen mit Knüppeln und Äxten.

    Was das Sextett von Dvořák anging, das allmählich wieder die Oberhand gewann: Wenn er sich zyklisch die wichtigere Kammermusik des Abendlandes bis hin zum Nachsingenkönnen einverleibte, dann wäre er in einer eventuellen Fernsehdebatte, bei der man ihn überfallartig nach Karl Marx fragte, in der Lage, mit musikalischen Querschüssen zu kontern, «Opus 132» etwa sagen, schlicht und einfach, ohne Angabe des Komponisten. Dann knickten sie zusammen, diese Fernsehleute, das war ihm bei ähnlichen Anlässen schon aufgefallen, denen sagte «Opus 132» nichts, weil sie ihre musikalischen Bedürfnisse mit Rock und Pop befriedigten.

    Der Roman, an dem Alexander Sowtschick in diesem Sommer arbeitete, trug den Titel: «Winterreise». Er wollte einmal abweichen von all dem, was seine Leser sonst von ihm kannten und, wenn auch mäkelnd, von ihm erwarteten. Eine Art Selbstbildnis hatte er sich vorgenommen, die Geschichte eines Schriftstellers also, mit Namen Gottfried Fingerling, der «ausbricht» aus seinem normalen Tageslauf, alles stehn und liegen läßt und eine Winterreise unternimmt, die ihn mit all dem Elend konfrontiert, das moderne Zeiten der Menschheit bescheren. Einen Roman hatte sich Sowtschick vorgenommen, in dem er allegorisch die Kälte vorführen wollte, der ein Mensch ausgesetzt ist, wenn er sich der Zeit stellt.

    Sowtschick war mit seinem Roman auf Seite 14 angelangt, was einem Druckseitenvolumen von 15,829975 Seiten entsprach. Das hatte er mit einem extra hierfür gekauften Taschenrechner herausbekommen.

    «Falls ich jetzt sterbe», hatte er zu seiner Frau gesagt, «dann könnt ihr diese Blätter als Fragment herausgeben – soweit bin ich immerhin schon», und er hatte sich die nach seinem Tode zu veranstaltende Gesamtausgabe seiner Werke vorgestellt, die dann allerdings im letzten Band, ähnlich wie «Die Kunst der Fuge», mit Pünktchen enden müßte: «Hier ist dem Dichter die Feder aus der Hand geglitten …»

    Wenn seine inneren Nöte nahten, in kummervollen Stunden, ausgelöst durch Kritiken, in denen von «Fleißarbeit» die Rede war oder gar von «Bastelei» und seinen als «brav» bezeichneten Büchern Strickmuster unterstellt wurden, Stunden, in denen er an sich selbst irre wurde, rechnete er zusammen, wieviel Seiten diese Gesamtausgabe bereits umfassen würde, und er war auf die stattliche Zahl von 2576 gekommen. Wer immer ihm Qualität abspräche, der mußte doch wenigstens die Quantität zur Kenntnis nehmen.

    In eitlen Stunden hatte er sogar schon einen Entwurf für ein, dann ja allerdings von jemand anderm zu verfassendes Nachwort gemacht. Eine Nacht hatte es gegeben, in der er auf den Dachboden gestiegen war. Hier hatte er aus einem Karton repräsentative Fotos von sich herausgesucht und in einen Umschlag gesteckt: «Nach meinem Tode zu verwenden».

    Was Sowtschick immer wieder beschäftigte, war die Frage, welchen Biographen er bekäme, wenn alles vorbei sein würde. Er hatte sich vorgenommen, diese Sache nicht dem Zufall zu überlassen. Ausgerechnet in Australien wohnte ein Wissenschaftler, der einmal Erstaunliches über sein Werk gesagt hatte, etwas Umfassendes und das gesamte Werk von einer einzigen Seite her Durchdringendes. Eingeleuchtet hatte ihm das, wenn es auch irgendwie nicht stimmte und in einigen Teilen selbst ihm, dem Urheber des Untersuchungsgegenstandes, völlig unverständlich war. Dieser Australier war es, der imstande wäre, eine solche Biographie zu verfassen, aber, würde er das auch wollen?

    Etwas anderes war es mit seinem Freund Engelbert von Dornhagen, der in Hamburg wohnte und leicht zu erreichen war, wenn es um Dinge des literarischen und politischen Zusammenrückens ging. Die Freundschaft zu von Dornhagen reichte bis in die Zeit seines ersten Buches zurück, «Kaum einen Finger breit». Dornhagen war es gewesen, von dem die allererste Kritik seines allerersten Buches gekommen war, und sie war positiv gewesen. Seither war von Dornhagen
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