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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage
Autoren: Walter Kempowski
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tot … Manchmal stellte er sich vor, daß Rubinstein durch ein tückisches Schicksal das Augenlicht eingebüßt hätte und mit von Gicht verknoteten Fingern neben ihm säße, und ihm allein, Sowtschick, sei es vorbehalten, dem Virtuosen noch ein letztes Mal jene Klänge in Erinnerung zu rufen, mit denen er sich und der Welt Glanz verschafft hatte.

    «Mein Mann spielt jeden Tag, Stunde um Stunde», erzählte Marianne ihren langgliedrigen Freundinnen, deren Männer dies eben nicht taten, geschweige denn, daß sie Bücher lasen (Sowtschicks Bücher lasen sie schon gar nicht). Sie war stolz auf das Klavierspiel ihres Ehemannes, was diesen zwang weiterzumachen, auch wenn er längst seine Grenzen erreicht hatte.

    An diesem Tag spielte er die «Jagdsonate» von Mozart, und er spielte sie gut, wenn man von den Fummelstellen im langsamen Satz absieht, die ihm noch nie recht geglückt waren. Er ließ den Schlußakkord nachhallen, und dann sah er auf die Uhr und stellte fest, daß es bereits auf zwei zuging. Marianne müßte jetzt, so rechnete er aus, in der Gegend von Münster sein. Noch würde sie den Sog von zu Hause spüren, bald aber würde sie schneller fahren, schnell und immer schneller.

    Sowtschick schloß alle Türen ab und entschied sich, in der Hitze dieses Sommertages erst einmal Siesta zu halten. Das Schlafzimmer lag im ersten Stock, und zwar nach Osten. Es standen zwei Betten darin, Ehebetten der Erstausstattung, aber nach fünfundzwanzig gemeinsamen Jahren hatte es sich eingebürgert, daß Marianne im zweiten Stock schlief, «unterm Dachjuchhe», wie das genannt wurde. Sowtschick hatte das andere Bett belegen können mit Büchern und Zeitschriften jeder Art. Da lag all das, was er gern lesen wollte oder was er schon längst hätte lesen müssen, germanistische Zeitschriften und allerhand Philosophisches, wozu er sich jedoch nicht zwingen konnte.

    Nun bin ich sechzig Jahre alt und habe das alles nicht gebraucht, da werde ich wohl auch ferner durchkommen ohne diesen Schmond, so etwa dachte er, was ihn jedoch nicht vor Gewissensbissen bewahrte. Der schreckliche Gedanke machte ihm zu schaffen, er könnte bei einer Fernsehdebatte mal ganz direkt gefragt werden: «Kennen Sie überhaupt Karl Marx?»

    Gern griff er zu Kunstbänden, in denen gezeigt wurde, wie das Kloster Sowieso vor fünfhundert Jahren ausgesehen hatte, und daß es später Pferdestall oder Schnapsfabrik geworden war, vom Kreuzgang nur noch phantasieanregende Reste. Manchmal las er auch Biographien berühmter Männer, wobei er sich stets zuerst den Schluß vornahm, um zu erfahren, wie sie zu Tode gekommen waren. Polarexpeditionen und sibirische Gefangenschaften – das war die rechte Lektüre für heiße Tage. Für diesen Sommer hatte sich Sowtschick ein Buch herausgesucht, das er schon mehrmals gelesen hatte, es hieß «Unternehmen Cerberus» und handelte von deutschen Schlachtschiffen, die im Februar 1942 den Ärmelkanal unter den Augen der Briten in Richtung Heimat passieren, ein verblüffendes Husarenstück, wie es seit den Tagen der spanischen Armada nicht mehr versucht worden war: Berge aus Stahl durch das aufgewühlte eisige Wasser stampfend … Das war für Sowtschick eine angenehm-gruselige Vorstellung, die ihn die sommerliche Hitze und das Frei-Offene seines Hauses noch behaglicher erscheinen ließ, als es ohnehin der Fall war.

    Sowtschick legte sich auf das Bett, las ein paar Seiten, dann klappte er das Buch zu und sah an die Holzdecke. Der Architekt hatte den Fehler gemacht, ihn beim Einzug auf zwei zusammengehörige Bretter hinzuweisen, die sich trotz allen Umstapelns an der Zimmerdecke direkt nebeneinander wiedergefunden hatten: An Astknorren war das zu erkennen. Sowtschick suchte, wie er es immer tat, die Bretter ab, ob sich nicht doch noch ein Paar finden ließe. Es wäre doch sonderbar, dachte er, wenn es ihm nach all den Jahren gelänge, doch noch ein Paar zu finden. Wenn Marianne wiederkäme, würde er sie ins Schlafzimmer führen und es ihr zeigen, das kleine Wunder: «Was Gott zusammenfügt, das soll der Mensch nicht scheiden.»

    Vor dem Fenster regte sich die große Pappel. Als Sowtschick die Augen zumachte, sah er auf den geschlossenen Lidern fotozellenartig den Fensterrahmen mit dem Geäst der Pappel sich abzeichnen und allmählich verblassen. Dies habe ich der Welt abgetrotzt, hatte er noch Zeit zu denken, daß ich hier am hellichten Tag liegen kann und schlafen … Die Zellen seines Körpers, im Gehirn und in den
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