Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Angebote zur Beteiligung an Anthologien verzichtete er gern, und Briefe zu lesen, in denen stand, daß seine Romane sich wie eine kühle Hand auf eine heiße Stirn legen, darauf war er nicht erpicht. Er wußte, daß auch jener lila Brief, der bis unter den Flügel gerutscht war, nicht das Liebesgeständnis einer jungen Dame enthielt, eines («Teenagers», wie er immer noch sagte, oder einer «Tussi», wie es neuerdings hieß, was er einem Handbuch der Jugendszene entnommen hatte, mit der er sich eventuell, Literarisches vorschützend, irgendwo mal treffen könnte. Dieser Brief, lila und mit grüner Tinte adressiert, dessen Absender allerdings und offensichtlich eine «Tussi» war, würde das Geheimnis enthalten: «Ich habe Sie mir gewählt …», als Thema für eine Semesterarbeit nämlich. Und dann eine endlose Reihe von Fragen, womöglich schon bis nächsten Donnerstag zu beantworten: «Warum schreiben Sie?» Oder: «Welche Position nimmt der Erzähler in Ihrer Prosa ein?» Oder gar: «Wann endlich wenden Sie sich heutigen Zeiten zu?» Es genügte seinen Lesern nicht, daß er in ziemlich dicken Romanen «Vergangenheit aufarbeitete», vergnüglich aufarbeitete, wie es Sowtschick vor einigen Tagen in einer Reklame seines Verlages hatte lesen müssen, nein, die Leser wollten ihr jetziges Leben beschrieben, eigenes Tun und Treiben gespiegelt, ja gedoppelt sehen.

    Alexander Sowtschick ließ die Briefe liegen, wo sie lagen, er setzte sich an den Flügel, in dessen schwarzer Politur sich die Landschaft spiegelte, und blätterte in den Noten: die D-Dur-Sonate von Mozart. Seit er in einem Godard-Film diese Sonate gehört (und gesehen) hatte, auf einem Bauernhof dargebracht, neben Misthaufen und Schweinestall, liebte er sie. Köchelverzeichnis 576, «Jagdsonate» genannt, vom Komponisten selbst als leicht zu spielen bezeichnet, trotzdem heikel für einen Laien wie Sowtschick.

    «Wann endlich wenden Sie sich zeitgemäßeren Themen zu?» … War Mozart etwa nicht zeitgemäß? Oder Shakespeare? Hatte der «Mann mit dem Goldhelm» die Welt verändert, und war nach der «Fünften» alles besser geworden? Sowtschick fühlte sich jenen Riesen zugehörig, die laut Nietzsche über die öden Zwischenräume der Zeiten hinweg, ungestört von mutwilligem lärmenden Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, hohe Geistergespräche führten, die nicht von heute, hier und jetzt handelten, sondern von den ehernen Gesetzen des Lebens. Ach, während Sowtschick die Sonate spielte, genauso nachlässig übrigens, wie es bei Godard geschah, wenn auch nicht so fehlerfrei, wurde ihm klar, daß er mit seinen Büchern nicht zu den von Nietzsche beschriebenen Riesen gehörte, die sich über dem Gezwerge hinweg was zurufen, auch wenn er danach immer wieder zielte, jeden Tag acht Stunden lang. Vier Stunden lang, wenn er ehrlich war, aber er hatte es sich nun einmal angewöhnt, acht Stunden zu sagen, was er gelegentlich sogar auf zehn steigerte.

    Von seinem Klavierspiel ermuntert, kamen die Hunde herbei. Erst die Corgies, Doris und Jockel, dann der zottige Percy mit seiner grauen Schnauze. Über die ausgestreuten Briefe liefen die Tiere, und sie legten sich neben den Flügel. Dies war auch für sie schön: das still-nachdenkliche Herrchen, eines der angenehmeren Klanggebilde spielend, an Jagdhörner und an Wald erinnernd. Es war zu hoffen, daß es ihm nicht einfallen würde, jenes andere Klavierstück hervorzuholen, von dem sie als Hunde natürlich nicht wissen konnten, daß es von einem Russen namens Prokofjew stammte, jenes wild-laute Stück, mit dem Sowtschick seine Gäste gern verblüffte.

    Sowtschick spielte täglich Klavier, wenn auch nicht drei oder gar fünf Stunden, wie er es den Journalisten gern erzählte. Er übte ganz regulär mit kleinen Selbstbestrafungen, wenn er bei kniffligen Stellen versagte. Er tat dies nicht, um Virtuose zu werden, er hatte nie vorgehabt, anderen Menschen damit zu imponieren. Er verleibte sich Kulturgut ein, aus einem freudigen Pflichtgefühl heraus, wobei ihn ein kindliches Vergnügen am Melodischen bei der Stange hielt. Manche Stücke mied er, weil sie dieses Bedürfnis nicht befriedigten. Andere übte er ausdauernd, um es seiner zänkischen Klavierlehrerin heimzuzahlen. «Dann hat er also doch Talent?» hörte er sie sagen, und das freute ihn. Immer hatte er imaginäre Zuhörer bei seinem Spiel. Den Vater mit dem goldenen Zwicker oder die Mutter, an den Türrahmen gelehnt, leise mitsummend, nun schon so lange
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher