Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hueter Der Macht

Hueter Der Macht

Titel: Hueter Der Macht
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
gegeben.
    »… und es gibt keinen Nachfolger. Heiliger Michael, was sollen wir tun?«
    Es wurde niemand ernannt, Wynkyn, doch das bedeutet nicht, dass es niemanden geben wird. Wir müssen einen Nachfolger erschaffen, du und ich und meine himmlischen Brüder.
    »Aber wie soll das geschehen?«
    Nimm das Buch, das du in der Hand hältst, und öffne es auf der letzten Seite.
    Zögernd tat Wynkyn, worum ihn der Erzengel gebeten hatte.
    Er keuchte vor Überraschung. Das Buch offenbarte ihm eine Beschwörungsformel, die er noch nie zuvor gesehen hatte… und wie viele Jahre hatte er damit verbracht, jeden Federstrich auf diesen Seiten zu studieren!
    Mit unseren himmlischen Kräften und deiner Stimme können wir gemeinsam einen Nachfolger erschaffen.
    Wynkyn überflog rasch die Beschwörung. Er runzelte die Stirn, als ihm ihre Bedeutung klar wurde. »Aber es wird Jahre dauern, und in der Zwischenzeit…«
    Vertrau mir. Bist du bereit?
    Wynkyn holte tief Luft und kämpfte dabei gegen einen Hustenreiz an. »Ja, Herr. Ich bin bereit.«
    Das Leuchten um den Erzengel wurde stärker und im selben Moment sah Wynkyn die Augen des Engels.
    Bilder durchströmten ihn: zuckende und sich aufbäumende Körper, den Übeln des Begehrens verfallen, die Gelüste des Fleisches, die über die Seele triumphierten.
    Schreckliche Sünder sind sie allesamt! Wo sind die, die nicht sündigen… ah! Dort! Dort!
    Wynkyn blinzelte. Er sah einen Ehemann, der sich zögernd auf den Leib seiner Frau herabsenkte, und seine Gemahlin, gesegnet unter den Weibern, wandte voller Abscheu das Gesicht ab und schloss die Augen vor den ekelerregenden Bewegungen ihres Ehemannes. Dies war nicht ein Akt der Lust, sondern der Pflicht. Dies waren ein Mann und eine Frau, die das Unerträgliche nur aus einem Grund erduldeten: um ein Kind zu zeugen.
    Ein wahres Kind Gottes. Sprich, Wynkyn, sprich die Beschwörung, auf der Stelle!
    Er zögerte, denn als der heilige Michael seinen Befehl aussprach, wurde Wynkyn bewusst, dass die Zelle plötzlich – auf unheimliche Weise – mit allen Engeln des Himmels angefüllt war. Um den Mönch herum drängten sich unzählige strahlende Gestalten, ihre Gesichter waren ernst und zornig und ihre Augen so voller wütender Macht, dass Wynkyn sich fragte, warum die Mauern des Klosters nicht längst vor Furcht eingestürzt waren.
    Sprich!, befahl der heilige Michael und die Zelle wurde vom himmlischen Ruf der Engel erfüllt: Sprich! Sprich! Sprich!
    In seinem Fieber sprach Wynkyn die Beschwörungsformel, seine Zunge hatte mit einigen der Worte Mühe, doch das spielte keine Rolle, denn selbst im Stammeln spürte er, wie die Macht der Beschwörung und die Macht aller Engel die gesamte Schöpfung durchströmte.
    Der heilige Michael nahm die Hände von Wynkyns Gesicht und schrie auf, und mit ihm schrien die himmlischen Heerscharen.
    Auch der Mann schrie, seine Bewegungen waren nun gänzlich abstoßend und widerlich. Die Frau kreischte und versuchte verzweifelt, ihren Mann von sich zu stoßen.
    Doch es war zu spät.
    Viel zu spät.
    Wynkyns Nachfolger war empfangen.
    Der Mönch blinzelte. Der Erzengel und seine Gefährten waren verschwunden und ebenso die Beschwörungsformel auf der Seite vor ihm.
    Er war allein in seiner Zelle und ihm blieb nur noch der Tod.
    Aber vielleicht konnte er noch ein letztes Mal seine Pflicht erfüllen.
    Wynkyn brach am nächsten Morgen direkt nach der Frühmette auf, in der kalten Morgenluft zitternd. Bis zur Wiederkehr der Geburt des Herrn Jesus Christus waren es nur noch ein paar Tage – obwohl Wynkyn bezweifelte, dass sie dieses Jahr fröhlich und mit vielen Festlichkeiten gefeiert werden würde –, und der Winter hielt Mitteleuropa in einer eisigen Umklammerung.
    Er hustete und spuckte einen mit Blut vermengten Schleimbrocken aus.
    »Ich werde durchhalten«, murmelte Wynkyn. »Nur noch ein paar Tage.«
    Er packte seinen Stab fester und schleppte sich durch das Nordtor der Stadt auf die fast leere Straße hinaus.
    Das Tor war in der Nacht zuvor nicht geschlossen worden. Vermutlich lag der Torhüter als aufgetriebener Leichnam irgendwo im Inneren des Torhauses.
    Jenseits der Häuser und Stadtmauern pfiff der Wind, und Wynkyn musste sich fest in seinen Umhang wickeln. Dennoch konnte er der eisigen Kälte nicht ganz entkommen, und er zitterte heftig, während er sich zwang, auf der einsamen Straße einen Fuß vor den anderen zu setzen.
    »Ich bete zu Gott, dass mir noch genug Zeit bleibt«, flüsterte er und in den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher