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Hueter Der Macht

Hueter Der Macht

Titel: Hueter Der Macht
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diese Schatulle – ungeöffnet – an mein Heimatkloster zu schicken.«
    Guillaume hob überrascht eine Augenbraue. »Euer Heimatkloster? Aber, Bruder Wynkyn, das ist ganz und gar unmöglich!«
    »Und dabei doch ganz leicht auszuführen!«, fuhr Wynkyn ihn an und Guillaume zuckte angesichts der plötzlichen Verärgerung des Bruders zusammen. »Es reisen genügend Kaufleute durch Nürnberg, die die Schatulle gegen ein angemessenes Entgelt mitnehmen würden.«
    Wynkyn griff in sein Ordensgewand und zog eine kleine Geldkatze hervor, die er um seinen Leib gebunden hatte. »Nehmt diese Goldstücke. Sie sollten mehr als ausreichend sein, um für den Transport der Schatulle aufzukommen.«
    »Aber… aber die Pest hat allen Verkehr zum Erliegen gebracht und…«
    »In Gottes Namen, Guillaume, tut, was ich Euch sage!«
    Guillaume starrte Wynkyn an, erschrocken über dessen Verzweiflung.
    »Die Pest wird sicher irgendwann vorbei sein und wenn es so weit ist, werden die Kaufleute wieder ihren Handel aufnehmen, wie sie es immer tun. Bitte, tut mir den Gefallen.«
    »Also gut.« Guillaume wies auf einen Hocker und Wynkyn setzte sich. »Aber Ihr werdet doch sicher zurückkehren. Das seid Ihr bisher immer.«
    Wynkyn seufzte und rieb sich mit zitternder Hand das Gesicht. »Vielleicht.«
    Vielleicht auch nicht, dachte Guillaume, als er den fiebrigen Glanz in den Augen des älteren Bruders und das ungesunde Glühen seiner Wangen bemerkte.
    Guillaume wich ein paar Schritte zurück. »Ich schicke einen Bruder mit Essen und Bier«, sagte er und eilte zur Tür.
    »Ich danke Euch«, sagte Wynkyn in den leeren Raum hinein.
    In dieser Nacht saß Wynkyn in einer kalten Zelle neben der offenen Schatulle, die Hand auf dem geschlossenen Buch in seinem Schoß. Da es sonst niemanden gab, erklärte Wynkyn dem Buch, welches Unglück über die Menschheit im Allgemeinen und den Hüter des Höllenschlundes im Besonderen gekommen war. Die Päpste folgten nicht mehr den Weisungen Gottes und der Engel, sondern dem Befehl der französischen Könige. Sie kannten die Geheimnisse und Rätsel des Schlundes oder des Buches nicht, denn weder die Engel noch Wynkyn wagten es, sie ihnen anzuvertrauen. Aufgrund seiner Unwissenheit hatte der gegenwärtige Papst – Clemens VI. – auch keinen Nachfolger für Wynkyn gewählt.
    In den letzten Stunden, die er vom Fieber geschüttelt in seiner eisigen Zelle zugebracht hatte, hatte sich Wynkyn geweigert, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass er im Sterben lag. Es gab niemanden, der ihm folgen würde; wie konnte er also sterben?
    Wie konnte er sterben, wenn das bedeutete, dass die Dämonen freigelassen würden?
    In all den Jahrzehnten seines Dienstes an Gott und den Engeln war Wynkyn der Verzweiflung nie so nahe gewesen wie jetzt: nicht damals, als er zum ersten Mal von seinem Auftrag erfuhr, nicht einmal, als er gesehen hatte, was ihn an dem Eingang zur Hölle erwartete.
    Auch nicht, als der erste Dämon, dem er begegnet war, sich zu ihm umgedreht, ihn mit Namen angesprochen und um sein Leben gefleht hatte.
    Doch nun… das stille Elend in einer kalten und trostlosen Klosterzelle… das war Verzweiflung.
    Wynkyn senkte den Kopf und weinte. Seine Hand lag immer noch auf dem geschlossenen Buch, seine Schultern bebten von Trauer und Fieber.
    Friede sei mit dir.
    Wynkyn reagierte nicht gleich, doch als die himmlische Stimme erneut ertönte, blickte er langsam hoch.
    Die Zelle war in ein strahlendes Licht getaucht. Der größte Teil des Lichts ging von der Mitte einer Wand aus, von der verschwommenen Gestalt eines geflügelten Mannes mit ausgebreiteten Armen.
    Während Wynkyn mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen hinschaute, machte der Erzengel, immer noch nur ein undeutlicher, heller Umriss, einen Schritt auf ihn zu und umfing Wynkyns Gesicht sanft mit seinen Händen.
    Friede sei mit dir, Bruder Wynkyn.
    »Gepriesen seist du, heiliger Michael!« Wynkyn wäre auf die Knie gesunken, doch der Erzengel duldete es nicht.
    Der Erzengel erhöhte leicht den Druck seiner Hände, und Liebe und Freude durchströmten Wynkyn.
    »Gepriesen seist du, heiliger Michael«, flüsterte Wynkyn noch einmal, und seine Augen tränten von dem Glanz, den der Erzengel verbreitete. Er blinzelte, um die Tränen zu vertreiben. »Ich liege im Sterben…«
    Einen Moment lang, so kurz, dass er es sich eingebildet haben musste, glaubte Wynkyn zu spüren, wie der Erzengel von Zorn erfasst wurde.
    Doch dann war der Moment vorbei, als hätte es ihn nie
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