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Höhlenangst

Höhlenangst

Titel: Höhlenangst
Autoren: Christine Lehmann
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ohnmächtig wird.«
    »Wie oft wird eigentlich ein Kletterer im Seil ohnmächtig?«
    »Bei Steinschlag zum Beispiel. Der Petzl-Stop ist genial einfach konstruiert. Man fuhrt das Seil über zwei feststehende Metallscheiben, so als würde man von unten nach oben eine halbe Acht schreiben. Unten ist ein Hebel. Solange man den niederdrückt, kann das Seil laufen. Lässt man ihn los, kippt der untere Teil wie eine Schere auf, und eine Metallnase drückt das Seil im Zentrum der Acht und stoppt. Leider gehört es zu den menschlichen Instinkten, sich festzuklammern, wenn die Abfahrt zu rasant wird. Beim Petzl-Stop sollte man aber unbedingt loslassen.«
    »Klingt nach einer lebensgefährlichen Konstruktion.«
    »Ist aber lebensrettend, wenn irgendetwas den Mann im Seil außer Gefecht setzt.«
    »Eben jener Steinschlag.«
    Janette ließ sich nicht beirren. »Es gibt zwar auch Abseiler, die sowohl stoppen, wenn man loslässt, als auch, wenn man sich festklammert, aber Hark hat immer den Petzl-Stop benutzt.«
    »Ein falscher Reflex? Kann so etwas einem Höhlenkrokodil passieren?«
    »Warst du schon mal in einer Schachthöhle?«
    »Nein, du?«
    »Ich? Der Besuch der Laichinger Tiefenhöhle hat mir schon gereicht, und da ist alles mit Treppen ausgebaut und beleuchtet, und das seit hundert Jahren. Aber Florian veranstaltet Höhlenkletterseminare für Manager. Er bringt ihnen die Single-rope-Technik bei, die Ein-Seil-Technik, und dann geht es ab in einen Schacht. Und Florian sagt, in so einer Höhle bist du nur noch du selbst. Biologie, Tier, Reflex. Aus Teamplayern werden Egoisten und aus Eigenbrötlern Retter des ganzen Teams. Und wenn zweie sich hassen, dann würden sie einander umbringen, wenn andere nicht aufpassen.«
    Ich musste lachen.
    »Was gibt es da zu lachen?«
    »Janette, du glaubst, dass Hark seine Frau umgebracht hat.«
    Wir rollten in Steinhilben an einem Schul- und Rathaus vorbei.
    »Aber Hark ist doch abgestürzt, nicht sie«, hakte ich nach.
    »Nur, dass Sibylle mit einem gebrochenen Bein, einer gebrochenen Schulter und einem gebrochenen Handgelenk im Seil hing.«
    »Steinschlag?«, lockte ich.
    »Der Untersuchungsbericht sagt: nein. Es lagen keine neuen losen Steine im Schachtfuß, und solche Verletzungen, wie Sibylle sie aufwies, sind typische Pendelverletzungen. Sie ist am Seil an die Wand gekracht.«
    »Und nun will Hark sich an gar nichts mehr erinnern können. In der Tat, sehr verdächtig!«
    Janette kniff Resignation in die angespitzten Mundwinkel und setzte den Blinker, um nach einer rücksichts losen Vollbremsung hinter Steinhilben von der Landstra ße auf einen geteerten Feldweg abzubiegen, der in ein Tal hineinschwenkte. Über der Wiese im Winkel der Wälder schwebte gelb ein Hauch von Butterblumen.
    »Man müsst es ihm halt nur nachweisen«, bot ich ihr an.
    Sie spöttelte: »Du?«
    Der Wirtschaftsweg ging in einen Albfeldweg aus gelbweißem Kalkstein über, der unter den Reifen knack te. Am Ende des Tals glitzerten am Waldrand im Nachmittagslicht die Fenster eines bäuerlichen Anwesens. Es bestand aus einem kleinen Haus mit Schindeln auf der Wetterseite, einer großen Scheune, die neu gedeckt und mit modernen Fenstern versehen war, einem Vorplatz und einem Schuppen, vor dem Janette ihren Wagen zum Stehen brachte. In der Wiese, die sich zu einem lautlosen Bach senkte, lag an einem Nussbaum ein Kinderfahrrad. Das Refugium eines Aussteigers, der sich den Luxus der Stille leisten konnte. Man hörte nur das Knistern der Sonne auf den Schindeln.
    Und das Knirschen der Steine unter unseren Sohlen.
    Auch der Angriff kam lautlos. Ein pechschwarzer Vo gel schoss auf uns hernieder. Es war ein riesenhafter Ra be mit grünlichem Schimmer im Gefieder. Ich duckte mich und dachte an ausgehackte Augen.
    »Das ist Graf Huckebein«, lachte Janette. »Der will nur spielen!«
    Der Flugterrier stieg steil in die Höhe, kippte in der Luft und ließ sich wie ein Stuka herabfallen. Ich machte mich bereit, ihn zu packen und ihm den Hals umzudrehen.
    »Gerrit und Hark haben ihn aufgezogen«, erklärte Janette. »Es ist ein Kolkrabe.«
    Das wäre mir egal gewesen. Der Gedanke, das Biest könnte mit allen Krallen und Federn auf meinem Kopf landen, machte mich wahnsinnig. Aber glücklicherweise schwenkte der Bote des Todes mitten im zweiten Angriff zur Dachrinne um. »Onk!«
    Genau darunter war die Haustür aufgegangen und ein ziemlich sackbetonter Mann erschienen. So einer in abgewetzten Jeans, verwaschenem Sweater mit Haaren wie
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