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Hiobs Brüder

Titel: Hiobs Brüder
Autoren: Rebecca Gablé
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Priester war. Er kennt sich aus in der Welt und mit den Menschen. Ich schätze, er war ein guter Hirte, bevor er …« Er ließ den Satz unvollendet.
    Simon spürte, wie der Strick endlich von seinen Handgelenken verschwand. Erleichtert ließ er die gefühllosen, eiskalten Hände sinken, rieb sie kurz und fuhr sich mit der Linken über die blutende Nase. Dann wandte er sich um und verneigte sich leicht. Er wusste nicht so recht, warum er das tat, aber es erschien ihm richtig. Trotz der albtraumhaften Umgebung und seiner abenteuerlichen Erscheinung strahlte dieser Mann eine natürliche und darum unaufdringliche Vornehmheit aus. »Seid Ihr Normanne, Monseigneur?«, fragte Simon ebenso hoffnungsvoll wie ungläubig.
    Der Blick der eigentümlichen Augen richtete sich in die Ferne. »Ja.«
    Simon hatte das Gefühl, als habe er etwas Falsches gesagt. »Ich meinte nur …«, fügte er hastig hinzu. »Weil Ihr so fließend Angelsächsisch sprecht.« Er wies vage in die Richtung, wo King Edmund verschwunden war.
    »Was heißt das heutzutage schon? Du sprichst es auch.«
    Simon nickte. Es war nicht die Sprache, in der er dachte und träumte, aber er war in diesem Land zur Welt gekommen, genau wie sein Vater, und seine Amme und alle Dienstboten im Haus waren Angelsachsen gewesen. Viele Normannen sprachen Angelsächsisch. Aber nur wenige so wie dieser Mann mit den seltsamen Augen, so mühelos und ohne Akzent.
    Simon kaute nervös auf seiner Unterlippe. »Mein Name ist Simon de Clare.«
    Die Eröffnung entlockte seinem Retter keine so ehrfurchtsvolle Reaktion wie King Edmund. Er nickte lediglich, ohne sich vorzustellen. »Und was verschlägt dich an diesen im wahrsten Sinne des Wortes gottverlassenen Ort, Simon de Clare?«
    Der Junge schob sich die dunklen Fransen aus der Stirn und schlang den guten Mantel fester um sich. »Die Fallsucht«, antwortete er knapp. Es war plötzlich eigentümlich leicht, es auszusprechen, obwohl das Wort die quälende Scham mit sich brachte wie eh und je.
    »Sie haben gesagt, du seiest besessen?«
    Simon senkte den Blick und schluckte. »Ja.« Dann sah er auf. »Und Ihr?«, fragte er. Es klang fast ein bisschen herausfordernd. »Ihr macht nicht den Eindruck, als gehörtet Ihr hierher, Monseigneur.«
    »Das ist ausgesprochen schmeichelhaft, aber du irrst dich.«
    »Und habt Ihr einen Namen?«
    »Ich nehme es an. Aber ich weiß ihn nicht mehr.« Simon schaute ihm verständnislos ins Gesicht und sah in den grünblauen Augen eine solche Verstörtheit, dass ihm ganz elend davon wurde. »Ich habe keine Ahnung, wer ich bin, Simon de Clare. Mein Leben, wie ich es kenne, beginnt an einem Tag vor ungefähr zweieinhalb Jahren, als ich in dem Kloster dort drüben am Festland aus einem Fieber erwachte. Offenbar war ich kurz zuvor aus dem Heiligen Land zurückgekehrt, denn ich trug einen Kreuzfahrermantel. Aber was immer ich dort getan haben mag, wer immer ich war, weiß ich nicht mehr. Darum nennen sie mich Losian.«
    Simon wusste, das bedeutete: verloren sein. Verwundert stellte er fest, dass er tatsächlich noch in der Lage war, für eine andere menschliche Kreatur Mitgefühl zu empfinden. Gott und die Welt hatten ihm übel, wirklich übel mitgespielt, aber wenigstens hatte er sich nicht verloren. Ihm ging auf, dass es noch etwas gab, wofür er dankbar sein sollte.
    Losian hatte schon beim Aufwachen gewusst, dass heute ein schlechter Tag war. Er hatte in den Knochen gespürt, dass eine Veränderung bevorstand, und Veränderungen waren nicht gut. Sein höchstes – sein einziges – Gut war der Anschein von Gleichgewicht, den er seiner sinnlosen Existenz übergestülpt hatte und der zu nicht geringem Maß aus Resignation bestand. Doch da dieses Gleichgewicht in keiner Wirklichkeit verankert war, geriet es leicht ins Wanken. Darum war jede Veränderung eine Bedrohung, und nun stand sie hier vor ihm in Gestalt dieses Knaben: fünf Fuß groß und so dürr, dass er fast kränklich wirkte. Entweder war er zu schnell gewachsen, oder die frommen Brüder dort drüben hatten ihn hungern lassen, um ihm seinen Dämon auszutreiben. Ein ebenmäßiges, hellhäutiges Gesicht umrahmt von glatten, dunklen Haaren. Meergraue Augen, die ihn anflehten.
    Losian wandte den Blick ab. Er hatte diesem Jungen keine Hilfe anzubieten. »In drei Stunden wird es dunkel. Besser, du suchst dir zeitig einen Schlafplatz, sonst bist du morgen früh erfroren.«
    Er ließ ihn stehen und überquerte den schlammigen Burghof. An der Westseite standen im
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