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Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür
Autoren: Henry Slesar
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noch eine Prüfung, und er bestand sie – oder fiel durch, je nachdem. Sie war zu müde, um sich aufzuregen; sie empfand nur eine Art apathische Gereiztheit. War so ein Vormittag nicht schon schlimm genug? Jeder Morgen war eine Strafe für sie, da jede Nacht zur Qual wurde. Die letzte Nacht hatte zu den schlimmsten gehört; sie hatte kaum ein Auge zugetan. Die Alpträume waren in kurzen, wilden Galoppjagden durch ihr Gehirn gestürmt.
    Als das graue Steinportal der Kunst-Liga in Sicht kam, fühlte sie sich sicher genug, langsamer zu gehen und sogar völlig stehenzubleiben. Sie wollte ihren Verfolger zwingen, sie entweder links zu überholen oder zur Tat zu schreiten. Er tat keins von beidem. Er blieb einfach stehen, schützte ein entzücktes Interesse am Ausstellungskasten der Kunst-Liga vor. Sein Spiegelbild vermischte sich mit den grellen Farben von Moses Lieblings neuestem Gemälde. Er sah gut aus – jedenfalls in der Spiegelung. Kein ebenmäßiges Gesicht, aber nett. Schlank, nicht sehr breitschultrig. Gute Hände, unmöglich zu zeichnen. Aber sie war sicher, daß sie die Nase geschafft hätte.
    Als sie in der Toreinfahrt verschwand, schien er überrascht zu sein. Sie fragte sich, ob ihm nun wohl die Wahrheit aufging – daß er nämlich gar nicht hinter einem Mädchen aus Vogue her war, sondern hinter einer armen hungernden Kunststudentin. Sie zog eine Grimasse, als ihr dieser Satz durch den Kopf ging. Auf Gail traf nichts von alledem zu.
    Mr. Liebling schnüffelte gerade herum, als sie das Klassenzimmer betrat. Mit diesem Wort bezeichnete er seine Inspektionsrunden. Dabei schlurfte er durch den Raum, rückte dicht an seine Studenten heran, legte ihnen das backenbartgesäumte Kinn auf die Schulter, während sie das lebendige Modell in der Mitte des Raums darzustellen versuchten, und machte seine Anmerkungen, knurrte etwas, klagte oder lobte – was selten geschah; in den drei Monaten ihres Lehrgangs hatte Gail bisher nur ein freundliches Wort über seine schiefen Lippen kommen hören: »Nett«, hatte er gesagt, und sie wußte noch immer nicht, ob er ihre Zeichnung oder ihr Dekollete meinte, da er beides zugleich betrachtete. Mr. Liebling ignorierte zwar mit einer gewissen Routine die Aktmodelle in seinem Klassenzimmer, hatte aber ein Auge für seine bekleideten Studentinnen.
    Gail vermochte diesem Auge auszuweichen, als sie eintrat und sich an ihrem gewohnten Platz neben der Staffelei Helen Malmquists einrichtete. Ihre Freundin verzog clownhaft den Mund und fragte: »Na, was hast du diesmal für eine Entschuldigung?«
    »Ein Mann ist mir bis vors Haus nachgegangen.«
    »Und was gibt es sonst Neues?«
    »Ich meine, er ist mir wirklich gefolgt. Von der Wohnung bis zur Kunst-Liga. Über sieben Straßenkreuzungen – stell dir das mal vor!«
    »Hast du ihn dir anschauen können?«
    »Nur ganz kurz.«
    »Ein Fiesling?«
    »Nein«, sagte Gail. »Er war noch jung und sah gut aus.«
    »Dann beklag dich nicht. Wenn du wüßtest, was mir alles nachläuft!«
    Gail ignorierte die Bemerkung. So wie Helen aussah, war alles mit ihr in Ordnung; in den Farben war sie fast das genaue Gegenteil Gails. Dunkles Haar, hellblaue Augen, ein Mund, der etwas zu breit war, um das übrige Gesicht als schön gelten zu lassen, doch eine aufregende Figur, die schon mal den Verkehr zum Stocken bringen konnte. Im Augenblick stockte nur Moses Liebling auf seinem Rundgang. Er legte ihr das Kinn auf die rechte Schulter und blinzelte ihre Zeichnung an. Oder was bei ihr als Zeichnung galt. Helen schien nie über einen dünnen, schattenhaften Umriß hinauszukommen, der nur vage an das darzustellende Objekt erinnerte. Manchmal fragte sich Gail, ob sie sich nicht eben deswegen angefreundet hatten; Helen war so unfähig, daß sich Gails Versuche daneben wahrhaft professionell ausnahmen.
    Der Zeichenlehrer schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Wissen Sie, was Ihr Problem ist, mein Schatz? Sie denken zuviel. Sie müssen das Denken völlig aufgeben. Lassen Sie das von Ihrer Hand besorgen. Kräftige, kühne Striche!«
    Er entriß ihr die Zeichenkohle und warf die Gestalt des Modells mit kräftigen kühnen Strichen auf das Papier – die schweren Glieder erschienen wie durch Zauberhand, der Winkel des Ellenbogens auf dem rundlichen Schenkel, sogar ein Eindruck des mürrischen Gesichts. Die Zeichnung wurde besser, als er erwartet hatte, und er lächelte gutmütig und reichte ihr die Kohle zurück.
    »Ist doch nur ein Stück Papier, mein
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