Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Titel: Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Autoren: Joanne Harris
Vom Netzwerk:
durch die Landschaft, hungrig, und ist nicht mehr auszurotten.
    Francis Reynaud hat Unkraut gehasst. Aber ich mag den Löwenzahn, seine fröhlichen Blüten, die lecker schmeckenden Blätter. Aber so viel Löwenzahn habe ich hier noch nie gesehen. Rosette pflückt ihn gern und pustet die Schirmchen in die Luft. Nächstes Jahr …
    Nächstes Jahr.
    Wie seltsam, der Gedanke an nächstes Jahr. Wir haben eigentlich nie Pläne gemacht. Wir waren immer wie die Löwenzahnsamen, einen Sommer da – dann wieder weggeweht. Löwenzahnwurzeln sind stark. Das müssen sie auch sein, um Nahrung zu finden. Aber die Pflanze blüht nur einmal – selbst wenn sie nicht von jemandem wie Francis Reynaud herausgerupft wird –, und wenn sie Samen ausgebildet hat, dann muss sie die vom Wind wegtragen lassen, um zu überleben.
    Ist das der Grund, weshalb ich mich so bereitwillig nach Lansquenet rufen lasse? Oder sitzt der Instinkt so tief, dass ich das Verlangen, an den Ort zurückzukehren, wo ich diese eigensinnigen Samen gepflanzt habe, gar nicht richtig spüre? Ich bin gespannt, was dort in unserer Abwesenheit gewachsen ist. Falls überhaupt etwas gewachsen ist. Ich bin gespannt, ob unsere Anwesenheit eine Spur hinterlassen hat. Wenigstens eine kleine? Was empfinden die Leute, wenn sie heute an uns denken? Zuneigung? Gleichgültigkeit? Erinnern sie sich überhaupt noch an uns, oder hat die Zeit uns aus ihrem Gedächtnis gelöscht?

5

    Sonntag, 15. August
    Jeder Anlass für ein Volksfest ist willkommen und wird freudig begrüßt, père. Jedenfalls in Lansquenet, wo die Leute hart arbeiten und wo alles Neue – selbst die Eröffnung eines Ladens – als Abwechslung vom Alltag empfunden wird, als Grund, eine Pause zu machen und zu feiern.
    Heute ist Mariä Himmelfahrt, das große Marienfest. Ein Nationalfeiertag, aber die meisten Leute verbringen ihn so weit weg von der Kirche, wie sie nur können. Sie sitzen vor dem Fernseher, oder sie fahren ans Meer – von hier sind es nur zwei Autostunden bis zum Strand – und kommen erst in den frühen Morgenstunden nach Hause, mit einem Sonnenbrand auf den Schultern und verstohlenen Blicken, wie Hauskatzen, die die ganze Nacht unterwegs waren und irgendetwas ausgefressen haben.
    Ich weiß. Ich sollte tolerant sein. Meine Rolle als Priester hat sich verändert. Der moralische Kompass von Lansquenet wird heutzutage von anderen hochgehalten, von Großstädtern und Zugereisten, von Beamten und von den politisch Korrekten. Die Zeiten ändern sich, heißt es immer, die alten Traditionen und Überzeugungen müssen in Einklang gebracht werden mit den Entscheidungen, die in Brüssel gefällt werden, von Männern in Anzügen (oder, noch schlimmer, von Frauen), von Menschen, die sich noch nie außerhalb der Metropolen aufgehalten haben, höchstens vielleicht zu einem Sommerurlaub in Cannes oder zum Skifahren in Val d’Isère.
    Hier in Lansquenet hat es natürlich eine Weile gedauert, bis dieses Gift die Gemeinde erreichte. Narcisse hält seine Bienen immer noch genauso wie sein Vater und sein Großvater, der Honig bleibt unpasteurisiert, trotz aller EU-Vorschriften, aber heutzutage gibt er ihn völlig kostenlos her, mit großer Geste und einem Blitzen in den Augen verkündet er das, während er Postkarten für zehn Euro das Stück verkauft – so umgeht er die neuen Beschränkungen und hält eine jahrhundertealte lokale Tradition am Leben.
    Narcisse ist nicht der Einzige, der sich gelegentlich der Obrigkeit widersetzt. Da sind noch andere, zum Beispiel Joséphine Bonnet, früher Muscat, die das Café des Marauds führt und alles tut, um die verachteten Flusszigeuner zum Bleiben zu bewegen. Und der Engländer und seine Frau Marise, denen der Weinberg unten an der Straße gehört und die ebendiese Zigeuner oft ohne Vertrag für die Weinlese anheuern. Und Guillaume Duplessis, der Lehrer, der längst im Ruhestand ist, aber immer noch allen Kindern, die darum bitten, Nachhilfe gibt, obwohl neue Gesetze besagen, dass jeder, der mit Kindern arbeitet, überprüft werden muss.
    Selbstverständlich gibt es auch Leute, die sich über die Neuerungen freuen – weil sie irgendwie davon profitieren. Caro Clairmont und ihr Mann sind inzwischen glühende Anhänger von Brüssel und Paris, und erst vor kurzem haben sie es zur Chefsache erhoben, »Gesundheit und Sicherheit« in unseren Ort einzuführen: Sie kontrollieren, ob die Gehwege vernachlässigt werden, sie wettern gegen Wanderarbeiter und unerwünschte Personen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher