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Hexenjagd in Lerchenbach

Hexenjagd in Lerchenbach

Titel: Hexenjagd in Lerchenbach
Autoren: Stefan Wolf
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an.
    Es war ein großer Kerl. Er war dunkel
gekleidet, trug Turnschuhe; und sie sah sein Gesicht wie in Großaufnahme vor
sich: ein gutgeschnittenes Dutzendgesicht mit dünnen Lippen und bösen Augen.
    Auch er war überrumpelt, aber nur für
einen Moment.
    Sein Gesicht verzerrte sich.
    Helga war wie erstarrt gewesen. Jetzt
versuchte sie verzweifelt, den eingeklemmten Absatz zu befreien. Aber der saß
fest wie einzementiert.
    Drohend kam der Kerl auf sie zu. Sie
erkannte nicht, was er in der Hand hielt, aber es sah wie ein Schlagwerkzeug
aus.
    Helga wollte aus dem Schuh schlüpfen,
wußte aber, daß sie erst das Riemchen lösen mußte und daß ihr keine Zeit mehr
blieb — zur Flucht.
    Angst ergriff sie.
    „Hilfe!“ schrie sie. „Hilfe!“

     
    In der selben Sekunde hatte Tarzan Gaby
nach Hause gebracht, sie — was für ihn Ehrenpflicht war — wohlbehalten
abgeliefert. Daß sie vor der Haustür noch lange und angeregt miteinander
palaverten, gehörte dazu.
    Jetzt war seine Zeit knapp geworden. Um
noch rechtzeitig ins Internat zu kommen, mußte er sich gewaltig beeilen. Denn
schließlich lag die große Schule ein beträchtliches Stück außerhalb der Stadt.
    Auf seinem Rennrad flitzte er durch die
nachtdunklen Straßen. Schon wollte er den gewohnten Weg nehmen, als ihm
einfiel: Die Augustenstraße war gesperrt — für jeglichen Verkehr, sogar für
Fußgänger. Wegen der U-Bahn-Bauerei hatte man ihr in ganzer Breite den Bauch
aufgerissen — und das auf der gesamten Länge.
    Er wählte den zweit-kürzesten Weg,
radelte durch den vorderen Teil der Altstadt und bog schließlich in die
Kirchgasse ein.
    Die dünnen Reifen rumpelten. Bei der
Jagd über Kopfsteinpflaster fühlt sich ein Rennradsattel manchmal wie ein Schleifstein
an.
    Tarzan verminderte das Tempo.
Angestrengt starrte er in die Dunkelheit.
    Nur eine einzige Laterne, dachte er
ärgerlich, und die steht dort vorn und flackert. Und hier ist es so dunkel, daß
man glatt eine Mauer rammt.
    „Hilfe!“ hörte er plötzlich den
entsetzten Schrei einer Frau. Und noch einmal: „Hilfe!“
    Fassungslos erkannte er: Das war ja
Helga Götze, die da schrie!
    Augenblicklich sauste er los, ohne
Rücksicht auf seinen Drahtesel. Offenbar war Helga auf einem der Innenhöfe. Was
passierte da?
    Er sah einen Lichtschein in einem
Torbogen, hielt darauf zu, erreichte ihn und bekam gerade noch mit, wie ein
dunkelgekleideter Kerl auf Helga eindrang.
    In derselben Sekunde erlosch mit lautem
Knacken das Licht: ein — wie sich später herausstellte — Drei-Minuten-Licht,
das aber wegen eines Defektes manchmal stundenlang brannte und manchmal schon
nach Sekunden ausging.
    „Fräulein Götze!“ brüllte er. „Ich bin
hier!“
    Er sprang vom Rad, ließ es fallen,
hechtete in die Dunkelheit, stolperte über eine Steinkante und hatte Mühe, eine
Bauchlandung zu vermeiden.
    Mit griffbereiten Fäusten schoß er auf
den Hof, dorthin, wo er einen knirschenden Laut ausmachte.
    Im nächsten Moment prallte er gegen
jemanden. Blitzartig wollte er seinen wirksamsten Würgegriff ansetzen — was zur
Folge gehabt hätte, daß Helga für den Rest des Jahres arbeitsunfähig gewesen
wäre.
    Gerade noch rechtzeitig bemerkte er den
Irrtum und entließ die grazile Lehrerin aus der Umklammerung.
    „Verzeihung! Wo ist er?“
    „Ich... weiß nicht“, keuchte sie. „Er...
o Gott! Er wollte mich niederschlagen. Er hat einen Totschläger.“
    Tarzan blieb sprungbereit, hielt den
Atem an, lauschte.
    An der Seitenmauer des Hofes klirrte
etwas. Aber er konnte die Stelle nicht genau orten.
    „Wo ist der Lichtschalter?“
    „Irgendwo am Torbogen. Hier links.“
    Er tastete umher. Wertvolle Sekunden
verstrichen. Dann fand er den Schalter; und wieder war der Hof hell erleuchtet.
    Er war leer. Keine Spur von dem Kerl.
    Tarzan sah jetzt: Die Seitenmauer, wo
er das Klirren vernommen hatte, war kaum mannshoch. Dahinter lag der Nachbarhof
und...
    Tarzan rannte zur Mauer, hechtete hoch
und saß auf der Krone.
    Auch dieser Hof war leer. Ein
passagenartiger Gang führte durch das Haus zur Straße. Das Tor — zur Kirchgasse
hin — war geschlossen.
    Er wandte sich um. „Vielleicht kriege
ich ihn noch.“
    Er sah, wie Helga aus einem ihrer
Schuhe geschlüpft war und den eingeklemmten Absatz befreite. Dann sprang er in
den Nachbarhof hinab, flitzte zu dem Gang und sah an dessen Ende den
Lichtschein der Straße.
    Nach kurzem Sprint erreichte er den
Gehsteig und prallte fast mit einem Pärchen zusammen.
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