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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Splitter, abgebrochene Fahrzeugteile, Gepäck. Eine Frau war aus dem Wagen geschleudert worden und lag regungslos zwischen den Trümmern. Blut quoll aus ihrem Mund und ihr rechter Fuß war unnatürlich zur Seite verdreht, jeder Knochen in ihrem Körper schien gebrochen. Es gab keinen Zweifel, sie war tot - und unter der Burka zeichnete sich ihre Schwangerschaft ab. Kurz hielten sie inne, wortlos ließen sie die tote Frau liegen. Hesmat wollte nicht überlegen, ob das Kind mit ihr gestorben war oder im toten Körper der Mutter gerade erstickte.
    Um sich abzulenken, näherte er sich vorsichtig mit den anderen dem zerstörten Fahrzeug, das gut fünfzig Meter weiter auf dem Dach lag. Regungslos standen sie neben dem Wagen und warteten darauf, dass jemand das Kommando übernehmen würde.
    »Schaut, ob noch jemand lebt!«, sagte der Fahrer schließlich.
    Im verbeulten Wageninneren entdeckten sie ein Menschenknäuel. Es mussten insgesamt mindestens zehn Erwachsene und Kinder in dem Wagen gewesen sein, genau konnte es niemand mehr sagen. Köpfe ragten zwischen Beinen und Armen hervor und sahen aus, als schnappten sie nach Luft. Blut tropfte von einem Körper auf den anderen, Kinderaugen starrten
leblos in die Ferne. Von der anderen Seite des Wagens rief einer der Mitfahrenden, dass dort noch eine tote Frau liege. Sie konnten nichts mehr tun. Niemand hatte den Unfall überlebt.
    Sie fuhren wortlos weiter und meldeten den Unfall vorschriftsmäßig den Taliban beim nächsten Kontrollposten. Die Männer dort zuckten mit den Schultern und interessierten sich nur für die vorgeschriebene Länge der Bärte der Reisenden. Tote konnte man nicht mehr kontrollieren.
    Die Straße nach Kunduz war wiederholt bombardiert worden. Verrostete Panzer und Autowracks lagen quer über der Fahrbahn, der Belag glich einer Kraterlandschaft und immer wieder zwangen die Trümmer sie von der Straße.
    »Was ist mit den Minen?«, schrien die Frauen, als der Fahrer auf den Schotter neben der Straße auswich.
    »Haltet doch endlich den Mund!«, schrie er zurück. »Oder wollt ihr zu Fuß weiterlaufen?«
    Über verdorrte Felder, improvisierte Wege, zwischen Schafen und halb verhungerten Kühen hindurch bahnte sich der Wagen unversehrt den Weg zurück auf die Straße, um nach der nächsten Kurve wieder in den Graben abzubiegen. Wieder unter dem Geschrei der Frauen, wieder begleitet vom lauten Fluchen des Fahrers.
    Kunduz war die schmutzigste Stadt, die er bisher gesehen hatte.
    Lange suchte er in diesem Dreck nach einem Quartier für die Nacht. Hinter einem der Verschläge, in denen die Bauern das wenige verkauften, was sie sich vom Mund und den leeren Augen ihrer Kinder absparten, holte er den ersten Hundertdollarschein aus seiner Unterhose. Er schaute sich lange um, bevor er sich bückte und die Hose öffnete, um an das Geld zu kommen. Als er aus dem Schatten auf den von Urin und
Kot aufgeweichten Weg zurücktrat, um ein Zimmer zu suchen, schlug ihm das Herz bis zum Hals.
    »Ich möchte schlafen«, war alles, was er über die Lippen brachte, während er dem Fremden den Geldschein reichte.
    »Verschwinde«, sagte der. »Du bringst kein Glück und ich kann dir nicht wechseln.«
    »Aber was …«
    Der Fremde schnitt ihm das Wort ab. »Versuch es auf der Straße und jetzt verschwinde.«
    »Verschwinde!«, war das Einzige, was er von den Fremden in dieser Stadt hörte. Jeder hatte genug eigene Probleme, niemand wollte sich einen fremden Jungen aufhalsen. Die Nacht kündigte sich bereits an, als der fremde Geldwechsler auf der Straße die Hand nach seinem Geld ausstreckte.
    »Lass mal sehen«, sagte er. Wieder dieser nervöse Blick, der zwischen dem Geldschein und dem fremden Jungen wechselte. »Ich kann dir nur Afghani geben«, sagte der Fremde und zeigte auf die Geldpakete, auf denen er es sich gemütlich gemacht hatte. Schon lange hatte das Geld an Wert verloren. Allein um Brot zu kaufen, musste man einen Riesenpack Geld mit sich herumschleppen. Für einen Dollarschein erhielt man Händevoll Afghani. Geld, das praktisch wertlos war.
    »Wenn du mir keine Dollar geben kannst, will ich mein Geld zurück«, sagte Hesmat.
    Der Fremde lachte. »Du weißt, was du willst.« Er erhob sich und verschwand im Eingang zu seinem Geschäft. Schließlich drückte ihm der Mann ein schmutziges Bündel Fünfdollarscheine in die Hand und schob den sauberen Hundertdollarschein in seine Hosentasche. »Jetzt verschwinde!« Hesmat wollte das Geld prüfen, aber der Fremde zog ihn
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