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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis
Autoren: Joseph Conrad
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in ein oder zwei Monaten
     zusammenzimmerten, wenn wir glauben können, was wir lesen. Stellt ihn euch hier vor – am äußersten Ende der Welt, das Meer
     wie Blei, der Himmel wie Rauch, ein Boot so stabil wie eine Ziehharmonika – und dann den Fluß hinauf mit Vorräten oder mit
     Befehlen oder was immer. Sandbänke, Sümpfe, Wälder, Wilde, herzlich wenig zu essen für einen zivilisierten Menschen, nichts
     zu trinken als Themsewasser |10| . Kein Falernerwein hier, kein Landgang. Hin und wieder ein Militärlager, in der Wildnis verloren wie die Nadel im Heuhaufen   – Kälte, Nebel, Stürme, Krankheit, Exil und Tod   – Tod lauert in der Luft, im Wasser, im Gebüsch. Sie müssen hier gestorben sein wie die Fliegen. O doch – er schafft es. Schafft
     es zweifellos sogar sehr gut, ohne viel darüber nachzudenken, außer im nachhinein, wenn er damit prahlt, was er in seiner
     Zeit alles durchgemacht hat. Sie waren Manns genug, der Finsternis die Stirn zu bieten. Und vielleicht tröstete ihn die Aussicht
     auf die Chance einer Beförderung in die Flotte von Ravenna, später, falls er in Rom gute Freunde hatte und das fürchterliche
     Klima überlebte. Oder denkt euch einen netten jungen Römer in seiner Toga – vielleicht zuviel Würfel, ihr wißt schon   –, der im Gefolge eines Präfekten oder Steuereintreibers oder sogar eines Händlers hierherkam, um sein Glück zu machen. Landet
     im Sumpf, marschiert durch den Urwald, und irgendwo auf einem Handelsposten im Inneren spürt er die Wildnis. Die äußerste
     Wildnis hat ihn eingeschlossen – all das geheimnisvolle Leben der Wildnis, das sich im Wald regt, im Dschungel, im Herzen
     wilder Männer. Geheimnisse, in die es keine Einweihung gibt. Er muß inmitten des Unbegreiflichen leben, das gleichzeitig abscheulich
     ist. Und doch geht eine Faszination davon aus, die in ihm zu wirken beginnt. Die Faszination des Abscheus – versteht ihr.
     Stellt euch seine wachsende Reue vor, den Wunsch zu fliehen, den ohnmächtigen Ekel, die Kapitulation – den Haß.«
    Er hielt inne.
    »Allerdings«, fuhr er fort, indem er eine Hand hob, mit der Handfläche nach vorn, so daß er, im Schneidersitz, wie ein predigender
     Buddha dasaß, in europäischer Tracht und ohne die Lotosblüte – »allerdings würde es keiner von uns genauso empfinden. Was
     uns rettet, ist Effizienz – die Hingabe an die Effizienz. Aber mit jenen Burschen war nicht viel los. Sie |11| waren keine Kolonisten; unter ihrer Verwaltung ging es nur ums Ausquetschen, mehr nicht, vermute ich. Sie waren Eroberer,
     und dafür braucht es nur rohe Gewalt – nichts, womit einer prahlen kann, denn die eigene Stärke ist nur Zufall, begründet
     auf der Schwäche anderer. Sie rafften zusammen, was sie kriegen konnten, nur um des Kriegens willen. Es war ein brutaler Raubüberfall,
     ein Morden in großem Ausmaß, und die Männer machten sich blindwütig ans Werk – die passende Methode, wenn es darum geht, über
     eine Finsternis herzufallen. Die Eroberung der Erde – die meist nichts anderes bedeutet, als sie denen wegzunehmen, deren
     Haut eine andere Farbe hat oder deren Nase flacher ist als unsere eigene – ist keine schöne Sache, wenn man genau hinsieht.
     Die einzige Wiedergutmachung ist die Idee. Eine Idee, die dahintersteckt; kein sentimentaler Vorwand, sondern eine Idee; und
     der selbstlose Glaube an diese Idee – etwas, das man aufstellen kann, vor dem man sich verbeugen, dem man Opfer bringen kann   ...«
    Er brach ab. Flammen glitten über den Fluß, kleine grüne Flammen, rote Flammen, weiße Flammen, die einander verfolgten, überholten,
     zusammenflossen, sich kreuzten – um sich dann schnell oder langsam wieder zu trennen. Auf dem schlaflosen Fluß strömte in
     der einbrechenden Nacht der Verkehr der großen Stadt weiter. Wir schauten zu und warteten geduldig – es gab nichts anderes
     zu tun bis zum Ende der Flut; doch erst nach einem längeren Schweigen, als Marlow mit zögerlicher Stimme sagte: »Ich schätze,
     ihr erinnert euch, daß ich einmal für eine Weile Süßwassermatrose war«, wußten wir, daß es uns beschieden war, bevor die Ebbe
     einsetzte, einer von Marlows ergebnislosen Erfahrungen zu lauschen.
    »Ich will euch nicht lange damit aufhalten, was mir persönlich widerfuhr«, begann er, womit er die Schwäche vieler Geschichtenerzähler
     offenbarte, die oft nicht zu wissen scheinen, |12| was das Publikum am liebsten hört; »doch um die Wirkung zu begreifen, die das
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