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Herz aus Eis

Titel: Herz aus Eis
Autoren: Jude Deveraux
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anderen Gerüchen nur zu gut, und dazu noch der Lärm der Loren und Lokomotiven. Das war die Straße, in der die neu zugezogenen Bergarbeiter wohnten.
    Sie hielt mit ihrem Gespann vor einer der größeren Buden.
    »Sadie! Ich dachte, du kommst heute nicht mehr«, sagte eine junge hübsche Frau, die aus der Baracke eilte und sich die Hände und Arme an einem dünnen Handtuch abtrocknete.
    »Du kennst mich doch«, sagte Sadie mürrisch, während sie schwerfällig vom Kutschbock stieg. »Ich verschlafe immer, wenn mich mein Mädchen nicht weckt. Sie hat’s heute vergessen. Wie geht’s dir denn so, Jean?«
    Jean Taggert grinste die alte Frau an. Sadie gehörte zu den wenigen Privatpersonen, die Zutritt zum Lager hatten; und jede Woche zitterte Jean vor Angst, die Lagerpolizei könnte ihren Wagen durchsuchen.
    »Was hast du mitgebracht?« fragte Jean leise.
    »Hustenmedizin, Verbandszeug, ein bißchen Morphium für Mrs. Carson, ein Dutzend Paar Schuhe. Viel kann man ja nicht in so einem Kohlkopf verstecken. Und Spitzenvorhänge für Ezras Braut.«
    »Spitzenvorhänge!« hauchte Jean und lachte dann. »Du hast vermutlich recht. Spitzen könnten ihr besonders gut stehen. Na, dann wollen wir mal anfangen.«
    Es dauerte drei Stunden, bis Jean und Sadie das Gemüse verteilt hatten, für das die Lagerbewohner in Gutscheinen bezahlten, die Jean ihnen später heimlich wieder zurückgab. Weder die Minenbesitzer noch die Lagerpolizei wußten, daß Sadie ihr Gemüse und die darin versteckten Güter gratis verteilte. Selbst die meisten Bergarbeiter wußten das nicht. Das waren stolze Leute, und die hätten es nicht gern gesehen, wenn die Frauen Wohlfahrtsgeschenke annahmen. Doch die Frauen dachten an ihre Kinder und die Schufterei ihrer Ernährer und waren froh über alles, was sie umsonst bekommen konnten.
    Es war schon spät, als Sadie und Jean mit dem leeren Wagen wieder vor Jeans Haus standen.
    »Wie geht’s Rafe?« fragte Sadie.
    »Er arbeitet zuviel. Wie mein Vater. Und Onkel Rafe stiftet Unruhe. Du mußt wieder fahren. Wir dürfen nicht riskieren, daß du auch noch in Gefahr gerätst«, sagte Jean und nahm Sadies Hand. »So eine junge Haut.«
    »Unruhe . . .?« begann Sadie verdattert und entzog Jean rasch die Hand. Jean lachte und sagte:
    »Dann also in acht Tagen. Und — Sadie, du kannst beruhigt sein. Ich weiß es nämlich schon lange.«
    Sprachlos vor Verwirrung stieg Sadie auf den Kutschbock und schnalzte mit der Zunge, um die Pferde anzutreiben.
    Eine Stunde später hielt sie auf der Rückseite des alten Pfarrhauses in Chandler. Im späten Licht der Abenddämmerung rannte sie über den Hof, durch die unverschlossene Hintertür und durch einen kurzen Korridor in ein Badezimmer, wo saubere Kleider an einem Bügel hingen.
    Sie riß sich die Perücke vom Kopf, wusch sich die Theaterschminke aus dem Gesicht und schrubbte die schwarze Gummimasse von ihren Zähnen. Sie band das viel zu warme, ausgepolsterte Kleid, das ihre Gestalt so unförmig machte, am Hals los und ließ es von ihrem Körper gleiten. Sie zog Unterwäsche und Unterröcke aus feinem Batist an, dann ein weißes Leinenkorsett, das sie vorne verschnürte, und stieg in einen maßgeschneiderten Rock aus blauem Serge. Als sie ihren dunkelblauen Ledergürtel umband, klopfte es.
    »Herein.«
    Reverend Thomas öffnete die Tür und stand einen Moment auf der Schwelle, um die Frau im Badezimmer zu betrachten. Miss Houston Chandler war groß, schlank und schön, hatte dunkelbraune Haare mit einem Hauch von Rot darin, weit auseinanderstehende blaugrüne Augen, eine gerade, aristokratische Nase und einen kleinen, vollendet geformten Mund.
    »Sadie hat sich also wieder für eine Woche verabschiedet«, sagte der Pfarrer lächelnd. »Aber die Miss Houston sollte sich ein wenig beeilen. Dein Vater . . .«
    »Mein Stiefvater«, verbesserte sie ihn.
    »Nun, sicher; aber der Titel ändert nichts an seinem Ärger.«
    »Sind Anne und Tia mit ihrem Wagen wohlbehalten zurückgekommen ?«
    »Vor Stunden schon. Und jetzt marsch, nach Hause!«
    »Jawohl, Sir.« Sie lächelte. »Bis zum nächsten Mittwoch«, rief sie über die Schulter, als sie das Pfarrhaus durch die Vordertür wieder verließ und mit beschwingten Schritten den Heimweg antrat.

Kapitel 1
    Mai 1892
    Houston Chandler ging so unbefangen wie möglich die Straße zu ihrem Haus hinunter und hielt vor einem dreistöckigen roten Ziegelgebäude im viktorianischen Stil an, das jedem in der Stadt unter dem Namen »Villa
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