Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herbstfrost

Herbstfrost

Titel: Herbstfrost
Autoren: Georg Gracher
Vom Netzwerk:
Betrachter der Illusion, in ein Auge zu blicken. Die
verschiedenen Nadelhölzer, die den Wimpernkranz bilden, verstärken diesen
Eindruck noch.
    Im Herbst lösen sich die mannigfachen Grüntöne des Reedseegrabens in
einer grandiosen Farbenvielfalt auf. Zwischen orangefarbenen Lärchen und
blaugrünen Latschen mäandern dann abgeblühte Bergwiesen in unterschiedlichsten
Rot- und Ockerschattierungen dem See entgegen, wo Torfmoos, Heidekraut und
Riedgras üppig wuchern. Doch auch deren kräftige Farben verblassen neben den
knallgelben Schwefelflechten auf den Uferfelsen bis zur Unauffälligkeit.
    Ganz und gar nicht unauffällig ist dagegen der Tischlerkargletscher
am Tauernhauptkamm. Wie ein riesiges Hermelin-Cape umsäumt er die bunte Palette
des Reedseegrabens, und obgleich kilometerweit entfernt, erscheint er vor dem
türkisblauen Himmel so nah, als bräuchte man nur die Hand auszustrecken, um ihn
zu berühren.
    ***
    Sarah Feldbach war freie Fotojournalistin. Zu anderer Zeit und
unter anderen Bedingungen hätte sie das überwältigende Panorama sehr genossen,
doch nicht an diesem Oktobermorgen.
    Sie war nervös. Nein, es war mehr als das: Sie hatte Angst. Und zwar
so sehr, dass ihr die Knochen schmerzten. Sarah Feldbach kannte dieses Gefühl
gut. Sie hatte es schon einmal ertragen müssen – vor langer Zeit in Dachau.
Achtzehn Monate und fünf Tage.
    Am Morgen ihres fünfzehnten Geburtstags waren plötzlich keine
schwarzen Uniformen mehr im Lager zu sehen gewesen. Erst nach bangen Stunden
des Wartens war die Hoffnung zur Gewissheit geworden: Die Zeit der Angst und
der Erniedrigung war vorbei. Es gab wieder eine Zukunft. Tagsüber. Aber nachts
war die Angst noch immer da. Und da blieb sie auch – bis weit in die fünfziger
Jahre hinein. Nacht für Nacht fuhr Sarah Feldbach schweißgebadet im Bett hoch
und zitterte wie Espenlaub. Es war immer derselbe Traum: Ein SS -Mann kam frühmorgens in die Baracke, um sie auszusondern . Oft waren die Bilder so schlimm, dass sie
sich abends vor dem Einschlafen fürchtete. Erst als sie ihren späteren Mann
kennenlernte, wurde es besser, und die Alpträume suchten sie seltener heim.
Ganz war sie sie jedoch nie losgeworden. Auch nach so vielen Jahrzehnten nicht.
    Die drei Burschen, die in ihrer unmittelbaren Nähe am Seeufer saßen,
trugen keine schwarzen Uniformen, dafür aber schwarze Lederjacken, schwarze
Hemden, schwarze Jeans und sorgfältig eingefettete schwarze Springerstiefel.
    Sarah Feldbach war um vier Uhr morgens vom Hotel »Grüner Baum«
losgegangen, um den Sonnenaufgang am See nicht zu verpassen. Nach etwa einer
Stunde Gehzeit hatte sie die jungen Männer hinter sich bemerkt. Sie hielten
konstanten Abstand, kamen nicht näher, überholten sie nicht. Rastete sie,
blieben auch sie stehen. Ging sie weiter, so folgten sie ihr wieder. Den
gesamten langen Weg hinauf sagte niemand von ihnen ein Wort, so als sei längst
alles gesagt worden, was zu sagen war.
    Oben am See mussten die jungen Männer zwangsläufig an ihr
vorbeigehen. Sie hatte sich auf einen bemoosten Felsbrocken direkt am Weg
gesetzt. Sie grüßten nicht, wie das unter Bergwanderern üblich ist, sondern
ignorierten sie.
    Sarah Feldbach kannte dieses Durch-einen-Hindurchsehen. Besser
gesagt: Sie erkannte es wieder.
    Werde ich jetzt im Alter plötzlich hysterisch?, fragte sie sich. Was
haben mir die Burschen denn getan, dass ich ihnen alles zutraue? Ich bin doch
keine überdrehte Jungfer, die sich nur deshalb in die Berge begibt, um in jedem
harmlosen Wanderer einen verkappten Wüstling zu sehen.
    Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Die Farben des Reedseegrabens
übertrafen jeden Ansichtskartenkitsch. Sarah Feldbach hatte schon ein paarmal
auf diesem Stein gesessen, auch zusammen mit ihrem Mann Arik, der vor zwei
Jahren gestorben war. Heute jährte sich sein Todestag, der Grund, weshalb sie
zum See aufgestiegen war. Sie beide hatten den Platz hier sehr gemocht. Früher.
Jetzt machte ihr die Stille nur Angst. Sogar der See bedrückte sie. In seiner
lauernden Unbeweglichkeit wirkte er bedrohlich.
    Mit zittrigen Händen packte sie ihr Lunchpaket aus. Die Burschen
jausneten bereits. Hartwurst, Bierkäse, Landbrot. Dazu tranken sie Dosenbier
und rülpsten laut.
    Es waren normale junge Leute mit Durchschnittsgesichtern. Vielleicht
etwas ungehobelt und nicht besonders intelligent, aber auch nicht besonders
dumm. Alle drei trugen das Haar kurz geschnitten. Nur einer von ihnen war
blond.
    Der Tod ist blond, seine Augen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher