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Herbstfraß

Herbstfraß

Titel: Herbstfraß
Autoren: Sandra Busch
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eigenen Lässigkeit kommt Bo auf mich zu, setzt sich auf die Kante meines Schreibtisches und schaut genau wie ich auf das Foto.
    „Was hätte alles aus Ingo werden können“, sage ich nachdenklich und ziehe meinen Finger zurück.
    „Nicht jeder unserer Fälle wird mit einem Happy End enden, Dot.“
    „Ich weiß, ich weiß.“ Ich seufze traurig. „Trotzdem hätte das Schicksal bei Ingo ruhig einmal eine Ausnahme machen können. Auf diese Weise zu sterben … das hat er nicht verdient.“
    „Das hat niemand verdient.“ Bo zieht mich aus meinem Stuhl und in seine Arme. Er riecht nach Seife, Rasierwasser und Pfefferminz. Während ich meine Nase – herrje, das Bild dieser fehlenden Nase wird mich bestimmt mein Leben lang begleiten! – gegen Bos Hals presse, um seinen Geruch einzuatmen, schließt mein Liebster mit einer Hand ungeschickt die Akte und schiebt sie von sich. Seine Wange schmiegt sich an meine.
    „Tweety?“
    „Hm?“
    „Kommst du damit klar?“
    „Womit?“
    „Dass du den Nolte erschossen hast?“
    Bo scheint zu überlegen.
    „Er war ein krankes Arschloch.“
    „Ja.“
    Warme, weiche Lippen küssen die sensible Stelle hinter meinem Ohr. Das ist genau der Auslöser, der meine Knie in Gummigelenke verwandelt. Wehrlos sinke ich gegen Bo.
    „Einen Menschen zu erschießen hinterlässt in mir einen dunklen Fleck, Dot. Doch ja, ich komme damit klar. Und um dich zu schützen, würde ich es wieder tun.“
    Daran würde ich niemals zweifeln. Schließlich ist Bo mein Held, mein Beschützer … der Mann, der so verteufelt gut riecht und an dessen Ohrläppchen ich gerade sauge.
    „Dot, wie fühlst du dich?“
    „Als hätte mich eine Dampfwalze überfahren. Warum fragst du?“
    „Ich könnte dich augenblicklich auf diesem Schreibtisch flachlegen.“
    „Keine Chance.“ Mein Körper schmerzt auch so schon genug. Bo seufzt bedauernd.
    „Schade. Dabei bin ich total scharf auf dich. Selbstverständlich habe ich Verständnis, wenn dich deine Verletzungen hindern …“
    Hastig unterbreche ich ihn: „Also, da gibt es einen Körperteil, der völlig intakt geblieben ist.“
    Mit einem theatralischen Seufzen hebt Bo seine bandagierten Hände an. „Ich würde ja so gerne, aber wie du siehst, bin ich gerade ein wenig gehandicapt.“
    Ich hauche einen Kuss auf seine Lippen.
    „Du hast so einen fantastischen Mund, Tweety. Ich wette, du weißt damit etwas Passendes anzufangen.“
    Bos Lächeln könnte nicht sündiger ausfallen.
     
     

Drei Tage später
    Allmählich kehrt in dem Waldstück am Bunker Ruhe ein. Die Polizeieinheiten sind abgerückt und nur die rot-weißen Absperrbänder flattern vergessen um die Baumstämme. Ein Eichhörnchen wühlt im Sonnenschein unter einem Baum nach herabgefallenen Bucheckern. Plötzlich spitzt es die Ohren und flitzt im nächsten Moment den Stamm hinauf. Von einem Ast aus schimpft es auf den dreiundsiebzigjährigen Rentner Kurt Sonnemann hinunter, der mit seinem Dackel Waldi im Schlepptau leise vor sich hinredend den schmalen Pfad entlang wandert. Zwischendurch bleibt er stehen und schneidet das Absperrband von den Bäumen, um es in einen mitgebrachten Abfallsack zu stopfen. Ab und an hält Sonnemann in seinem Tun inne. Dann fasst er rasch in seine Jackentasche, in der er einen Elektroschocker geschoben hat. Dabei schaut er sich wachsam mit leicht zusammengekniffenen Augen um. Er ist etwas kurzsichtig und seine Brille hat er – wie so oft – zu Hause auf dem Küchentisch liegen gelassen.
    „Man kann nie vorsichtig genug sein“, brummt Sonnemann in den Tag und Waldi pinkelt seinen Kommentar dazu an einen Laubhaufen. Zusammen laufen sie zum nächsten Absperrband, das direkt am Eingang des Haakebunkers hängt. Sonnemann bewegt sich ein wenig unbeholfen, denn in seinen hinteren Hosenbund hat er eine Brechstange geschoben – ebenfalls zur Sicherheit. Daher muss er etwas steifbeinig laufen, weil die Brechstange sonst ihren Halt verlieren und durch sein Hosenbein sausen würde.
    Vor dem düsteren Bunkereingang stoppt der Rentner ein weiteres Mal. Jemand hat rote Grabkerzen und gerahmte Fotos eines jungen Mannes an die Mauer gestellt. Langsam und von morbider Faszination gepackt, tritt Sonnemann an den schmalen Spalt und späht in die staubige Finsternis hinein. Ein modriger Luftzug weht ihm entgegen und er vernimmt ein leises, klagendes Raunen und Wispern. Erschrocken stolpert Sonnemann von dem Spalt fort. Der Abfallsack rutscht ihm aus den plötzlich zitternden Fingern.
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