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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition)
Autoren: Björn Springorum
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»Du willst doch sicherlich die Familie kennenlernen, die dich adoptieren möchte.«
    Sofort war alles Bisherige wie weggespült. Und mochte dieser Dienstagvormittag auch noch so verregnet sein: Für Emily war das Wetter so herrlich wie niemals zuvor.

    Als vier Wochen später der erste Schultag näher rückte, machte sie sich immer mehr Sorgen, dass irgendetwas schiefgehen könnte. Zwar schaffte die Schuluniform wenigstens die Klamottenfrage aus der Welt, sodass sie mit etwas Glück vertuschen konnte, dass sie das Modebewusstsein einer blinden Vogelscheuche hatte. Wie sie von ihrer Adoptivschwester Sophie erfuhr, konnte man sich aber selbst zwischen hundert identisch gekleideten Mädchen sofort als altmodisch outen, wenn man diesen Kragen oder jenen Gürtel falsch trug.
    Und damit fingen ihre Probleme erst an. Figur, Frisur, Musikgeschmack, Make-up und geschätzte tausend weitere Dinge waren laut Sophie wichtiger als alles andere. Unnötig zu erwähnen, dass Emily alldem bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte und in Sophies Augen dringend Nachhilfe brauchte.
    Sie hatte noch nie viele Klamotten besessen und trug meistens eine braune Cordschlaghose und eine lila Strickjacke. Sophies Kommentar »Das ist ja so Siebziger!« hatte ihr nur ein Stirnrunzeln entlockt. Tatsächlich sah sie mit ihren glatten langen Haaren, der blassen Haut und den feinen, ungeschminkten Gesichtszügen ein wenig so aus wie ein Blumenkind der 68er-Generation. Nur nicht ganz so bunt.
    Sophie hatte sie außerdem innerhalb kürzester Zeit über alles informiert, was es über das kleine Örtchen Woods End zu wissen gab. Ihr konnte es natürlich nur recht sein: Noch vor dem ersten gemeinsamen Abendessen hatte sie mehr über ihre neue Familie erfahren als in den zwei Jahren zuvor über sämtliche Heimschwestern und das gesamte Waisenhaus. Sie lernte, dass Sophie fünfzehn Jahre alt war und nach den Ferien in dieselbe Klasse kommen würde wie sie, dass ihre Eltern Carter und Megan hießen, Mitte vierzig waren und sie alle fortan denselben Nachnamen tragen würden – Lanceheart. Sie würde als Tochter eines Redakteurs und einer ehemaligen Verlagsmitarbeiterin in einem Einfamilienhaus leben, eine Gesamtschule besuchen und eine rundliche Katze namens Jodie in ihrem Bett schlafen lassen – kurz: das ganz normale Leben eines englischen Vorstadtmädchens führen.

    Emily störte es nicht, dass Sophie unentwegt quasselte. Von Natur aus in sich gekehrt, war sie immer froh, wenn andere ihren Part gleich mitübernahmen. Es war ein bisschen wie Radiohören. Einzig den Lautstärkeregler vermisste sie hin und wieder.
    Schon nach wenigen Wochen in Woods End fühlte sie sich so zu Hause wie nie zuvor. Ihre neue Familie hatte sie aufgenommen wie eine heimgekehrte Tochter, und sie zu keiner Sekunde spüren lassen, dass sie praktisch eine Fremde war. Sich an dieses herzliche, wohlbehütete Leben zu gewöhnen, fiel ihr nicht schwer.
    Ihre Eltern schien es nicht zu stören, dass Emily in Bezug auf ihre Vergangenheit völlig im Dunkeln tappte. Sie gaben sich mit den wenigen Fakten zufrieden, die sie bekommen konnten. Im Gegenzug hielt es Emily nur für fair, nicht nach dem Grund für ihre Adoption zu fragen. Sie wusste nur, dass sich ihre neuen Eltern immer eine zweite Tochter gewünscht hatten und angeblich sofort gespürt hatten, dass Emily die Richtige für ihre Familie war.
    Es war, als hätten sich alle stillschweigend auf einen Kompromiss geeinigt.
    So schnell gab sich Sophie natürlich nicht zufrieden. Dazu war sie viel zu neugierig.
    »Aber es ist doch bestimmt komisch, wenn man sich an absolut gar nichts erinnern kann, oder?«, fragte sie daher am Abend vor dem Schulbeginn. Sie saßen auf Sophies Bett, umgeben von Postern, Zeitungsausschnitten und Zeitschriften.
    Emily überlegte. Es war nicht das erste Mal, dass sie über diese Frage nachdachte. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich, nachdem ihr Blick einige Zeit über die mit Postern tapezierten Wände gewandert war. »Ich kenne es ja nicht anders. Für mich hört es sich genauso merkwürdig an, wenn man sich an so viel erinnern kann wie du.«
    »Hm«, machte Sophie unbefriedigt. »Aber wie kann es sein, dass du dich an nichts aus deinem früheren Leben erinnerst, dafür aber lesen, schreiben und sprechen kannst und unglaublich viel weißt, manchmal mehr als Dad?«
    Das war Emily auch schon aufgefallen. Sie zuckte mit den Schultern.
    Doch im Nachgeben war Sophie noch nie besonders gut gewesen.
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