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Herbst

Herbst

Titel: Herbst
Autoren: Rainer Maria Rilke
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dem, was ich im weitern Verlauf zu sehen bekommen habe, muß ich mir (trotz meines körperlichen Anspruchs auf Wärme) solcher Vorgänge viele wünschen, – ich ahne, zu was für Bildungen die Ath
mosphäre hier greifen muß, um sich zum Bilde der Stadt gehörig zu verhalten: Drohungen ballten sich und ließen sich aus in der Ferne über den lichten Reliefs anderer Wolken, die sich ihnen schuldlos, imaginäre Kontinente, entgegenhielten –, das alles über der Öde der davon verdüsterten Landschaft, aber in der Tiefe des Abgrunds ein ganz heiteres Stück Fluß, (heiter wie Daniel in der Löwengrube) der große Gang der Brücke und dann, ganz ins Geschehen einbezogen, die Stadt, in allen Tönen von Grau und Ocker vor des Ostens offenem und doch ganz unzugänglichem Blau, ach Fürstin, ich denke an den Sonnenaufgang, den Sie vom Fenster in Duino einmal so gut aufgeschrieben haben, und wünsche mir so viel Fassung in mein Herz, solchen Gegenständen gegenüber dazusein, still, aufmerksam, als ein Seiendes, Schauendes, um-Sich-nicht-Besorgtes …
    Taxis I (13. 11. 1912), 228
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    Dich wundert nicht des Sturmes Wucht,
du hast ihn wachsen sehn; –
die Bäume flüchten. Ihre Flucht
schafft schreitende Alleen.
Da weißt du, der, vor dem sie fliehn,
ist der, zu dem du gehst,
und deine Sinne singen ihn,
wenn du am Fenster stehst.
    Des Sommers Wochen standen still,
es stieg der Bäume Blut;
jetzt fühlst du, daß es fallen will
in den, der alles tut.
Du glaubtest schon erkannt die Kraft,

als du die Frucht erfaßt,
jetzt wird sie wieder rätselhaft,
und du bist wieder Gast.
    Der Sommer war so wie dein Haus,
drin weißt du alles stehn –
jetzt mußt du in dein Herz hinaus
wie in die Ebene gehn.
Die große Einsamkeit beginnt,
die Tage werden taub,
aus deinen Sinnen nimmt der Wind
die Welt wie welkes Laub.
    Durch ihre leeren Zweige sieht
der Himmel, den du hast;
sei Erde jetzt und Abendlied
und Land, darauf er paßt.
Demütig sei jetzt wie ein Ding,
zu Wirklichkeit gereift, –
daß Der, von dem die Kunde ging,
dich fühlt, wenn er dich greift.
    Werke I , 305f.
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    Liebe Lou,
    endlich, endlich ein großer Sturm; es war eine so ungewöhnliche Stille in diesem Herbst. Die Blätter saßen an den Ästen obwohl ein Nichts sie hielt; es fehlte ihnen der Entschluß abzufallen. Und man war beeinflußt davon und ging selber so vorsichtig zwischen allen diesen Buchen- und Eichenbüschen herum, um nur ja keinen Wind zu machen. Heute aber war Sturm, ganz großer Sturm, und in einer halben Stunde war alles leer. Und nun sieht man nach
allen Seiten, sieht den hellen kalten See, sieht weiße Landsitze und kleine rothe, rothe Holzhäuser; alles ist sich näher, wie für den Winter zusammengestellt, aber die Welt rund herum ist groß.
    Und der Sturm!
    Ich habe auf meinem einsamen Berg ein Gedicht geschrieben, es wurde so aus mir herausgerissen: (Das erste seit lange, lange.) Das gebe ich Dir nun, liebe Lou, zum Dank für Deinen guten Brief. Der hat mich so im Innersten gestützt. Du weißt ja aus meinem anderen Brief, wie ich nun handeln will. Ja, und auf diesem Willen sitze ich nun und halte mich an seiner Mähne und hänge an seinem Halse und mache gewiß keinen ritterlichen Eindruck. Aber, was die Hauptsache ist: wir kommen vorwärts dabei. Und sollte ich doch wieder hinunterfallen (o alte Reitschulerinnerung) so habe ich mir vorgenommen, diesem Willen nachzulaufen, solange der Athem hält. – So steht es nun. Und es soll eines nach dem anderen geschehen. Ob es dann, gegen den Frühling hin, Göttingen oder Zürich wird, wird sich später entscheiden müssen. Daß Göttingen, rein sachlich genommen, möglich ist, daran halte ich mich vor der Hand. Was Du mir zu bedenken giebst, ist lange bedacht. Liebe Lou, Du bist meiner Feiertage Feiertag, und ich gedenke ja Werktagjahre zu haben. Freilich jetzt sehne ich mich nach einem Wiedersehen, jetzt fehlt es mir überall: alle meine Gedanken sind ohne Anfangsbuchstaben. Aber es wird ja kommen und dann wird es mir wirken, und ich traue mir zu, ganz stille zu sein, irgend ein Mensch zu sein am Rande von Göttingen, der von Loufried nicht mehr zu wissen behauptet, als daß es dort eine Unmenge Äpfel giebt und einen weißen neugierigen, ungemein sachverständigen Hund.
    Andreas-Salomé
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