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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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geschlossen. Die leeren Fenster mit je einem Hartblattgewächs auf den Fensterbrettern: Das Lärmen im Treppenhaus und auf den Gängen ist verboten! – Schule stellte Matthias sich anders vor, er dachte an sein Landschulpraktikum, im Weserbergland, an die Schulstube, an den freundlichen alten Lehrer und an die Fliederlaube im Schulgarten, in der die großen Mädchen mit den Kleinen Fibeltexte buchstabierten – das war eine andere Art Schule gewesen als dieses steinerne Lehrinstitut. Er stellte sich die Schule, in der er nun ein neues Leben beginnen sollte, wie die kleine Dorfschule im Weserbergland vor, ein Birnbaum auf dem Hof, die Sprunggrube von Brennesseln überwuchert… Hier würde er«freischaffendes Lernen in offener Behaustheit»praktizieren können, wie es der alte Petersen auf dem Seminar wieder und wieder ausgedrückt hatte:«Vertrauen Sie in die Kinder hinein!»
    Mit den Kindern durch die Wälder streifen, im Fluß baden und Heu aufstaken… In einem sonnigen Klassenzimmer sitzen, den Globus zwischen den Händen drehen. Warmer Wind bauscht die Vorhänge, Blumen stehen auf dem Tisch.

    Neben dem Gymnasium befand sich das Kreisschulamt, eine umfangreiche Gründerzeitvilla mit Fachwerkgiebel und einem von dorischen Säulen eingefaßten Portal. Die Polizei saß im Parterre. Ein Steckbriefaushang und ein Plakat:
    DEUTSCHLAND DREIGETEILT?
NIEMALS!
    Matthias stellte sein Rad in eine Betonritze und betrat das Behördenhaus. Fünfzehn Uhr – er war angemeldet.

    Um diese Zeit saß der Schulrat erwartungsvoll hinter seinem Schreibtisch und drehte die Daumen überm Bauch. Er wartete auf Matthias, den zweiten der beiden Lehramtskandidaten, die man ihm zugeteilt hatte. Der andere war gerade gegangen, ein Mensch mit roten Fingern und unentschiedenem Haarschnitt. Ganze zwei Kandidaten für den gesamten Schulaufsichtskreis! Keine Ahnung, wie das noch werden sollte, die Decke war zu knapp! Sieben Planstellen offen und keine Lehrer zu kriegen! – Er drehte sich um und nahm eine Kinderzeichnung von der Wand, den Sputnik darstellend, wie er durch den Weltraum rast, an Sternen und Monden vorüber… eine Krakelei seiner Tochter, die inzwischen schon dem Abitur entgegenstrebte, neulich erst wieder eine Zwei in Französisch. In das Alter der Pampigkeit noch nicht eingeschwenkt. Sie hatte sich auf seinen Schoß gesetzt, ihm die Arme um den Hals geschlungen und«Papschi»gesagt. Ein warmer Sonnenstrahl fuhr in die Klüfte des Schulratgehirns, wenn er an seine Tochter dachte, es schien ihm, als ob das ein ganz besonderes Wesen sei, das ihm der Herrgott anvertraut hatte, auf ungewöhnliche Weise kostbar.
    In das Pädagogengehirn des Schulrats war der Geist der neuen Zeit bereits eingezogen. So durfte seine Tochter ihn«Egon»nennen -«Papschi», das war zwar nicht mehr zeitgemäß, hielt sich jedoch. -«Papschi ist gestorben», würde es eines Tages heißen. Und in der Zeitung würden sogar zwei Todesanzeigen stehen. Vielleicht sogar drei! Die Familie, die dankbare Lehrerschaft und die Regierung? Wer konnte es denn wissen?

    Nun zog er die Uhr aus der Tasche: ob der junge Mensch, der hier nun jetzt vereidigt werden soll, wohl pünktlich ist? – Er war es!, und zwar auf die Minute: Es klopfte, und der Schulrat steckte die Uhr in die Westentasche und rief«Herein!», und als der junge Mann, der sein ganzes Leben noch vor sich hatte, eintrat, stand er sogar auf und ging dem kostbaren Lehramtsanwärter offenherzig entgegen. Hier mußte eine Lebensschaukel angestoßen werden, zu hohem und höchstem Schwung! Ein feierlicher Moment, den man sich als Pädagoge bewußtzumachen hatte, und deshalb reichte er ihm auch beide Hände.
    «Seien Sie herzlich willkommen!»

    Der Schulrat bot ihm einen Platz auf einem Korbstuhl der behelfsmäßigen Einrichtung an -«Wir sind die billigste Ein-Mann-Behörde der Bun’srepublik!»-, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und fragte den Neuling über das Schreibgeschirr hinweg nach Namen und Herkunft, obwohl er dessen Lebensdaten doch vor sich liegen hatte. Es interessierte ihn, ob dieser junge Mensch wohl wußte, woher sich dessen Name leite? Ohne h, aber mit ck? Matthias reproduzierte seine Familienstory, und die nahm sich vorteilhaft aus, auch wenn darin viel von der Ostzone die Rede war.

    Ostzone? In der Ostzone kannte sich der Schulrat aus, als Primaner hatte er eine Klassenfahrt auf die Insel Hiddensee gemacht: Vor Gerhart Hauptmanns Haus hatten sie ein Ständchen gebracht, aber der Dichter
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