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Hard News

Hard News

Titel: Hard News
Autoren: Jeffery Deaver
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unter anderen Umständen – sagen wir in SoHo – vielleicht schick gewirkt hätte. Nur dass der Name des Designers auf dem Label nicht Giorgio Armani oder Calvin Klein lautete, sondern Gefängnisverwaltung New York.
    Rune hielt das Band an und warf erneut einen Blick auf den Brief, um das Gekritzel des Mannes zu lesen. Dann wandte sie sich wieder dem Bildschirm zu und hörte die Frage des Reporters: » Und wann haben sie Anrecht auf Hafturlaub ?«
    » Hafturlaub? In ein paar Jahren vielleicht. Aber, verflucht … «Der dünne Mann warf einen kurzen Blick in die Kamera und wandte ihn wieder ab. » Wenn ein Mann unschuldig ist, dann sollte er nicht auf Hafturlaub sein, er sollte einfach frei sein. «
    Rune schaute sich den Rest des Bandes an und hörte ihn erzählen, wie schlimm das Leben im Gefängnis sei, dass niemand im Büro des Direktors oder vor Gericht ihm zuhöre, wie unfähig sein Anwalt gewesen sei. Es wunderte sie allerdings, dass er überhaupt nicht verbittert klang. Er war eher verdutzt – wie jemand, der die Gerechtigkeit hinter einem Flugzeugabsturz oder einem Autounfall nicht begreift. Das gefiel ihr an ihm; wenn jemand das Recht hatte, gemein und sarkastisch zu sein, dann war es ein Mann, der unschuldig im Gefängnis saß. Aber er sprach ganz ruhig und schwermütig, wobei er gelegentlich einen Finger hob, mit dem er eine glänzende Kotelette berührte. Es wirkte, als habe er Angst vor der Kamera. Oder sei zu bescheiden oder schüchtern.
    Sie hielt das Band an und wandte sich wieder dem Brief zu, der an diesem Morgen auf ihren Schreibtisch geflattert war. Sie konnte sich nicht erklären, wieso er ausgerechnet bei ihr landete – es sei denn, weil sie die typische niedere Angestellte ohne präzise Arbeitsbeschreibung bei einem großen Fernsehsender war. Was bedeutete, dass häufig abgefahrene Briefe auf ihrem Schreibtisch abgeladen wurden – alles von den Listen der Gewinner von Preisausschreiben bis zur Idiotenfanpost für Captain Kangaroo und Edward R. Murrow. Und dieser Brief hatte sie nun bewogen, ins Archiv zu gehen und die alten Interviewbänder auszugraben.
    Sie las ihn erneut.
     
    An den, der sich angesprochen fühlt: Sie müssen mir helfen. Bitte.
    Es klang so verzweifelt, so elend. Aber es war weniger der Tonfall, der sie so anrührte, als vielmehr der dritte Absatz des Briefes. Sie las ihn noch einmal.
     
    Und es hat daran gelegen, dass die Polizei, gegen die ich normalerweise gar nichts habe, nicht mit allen Zeugen gesprochen hat oder denen, mit DENEN sie geredet hat, nicht die Fragen gestellt hat, die sie hätte stellen sollen. Wenn sie das gemacht hätte, dann hab ich meiner Meinung nach das Gefühl, dass sie rausgefunden hätte, dass ich unschuldig bin, aber das haben sie nicht gemacht.
     
    Rune musterte das auf dem Bildschirm eingefrorene Gesicht. Eine Nahaufnahme von Randy Boggs unmittelbar nach dem Prozess vor ein paar Jahren.
    Wo war er geboren?, fragte sie sich. Und wie hatte er gelebt? In der Highschool, war er da ein – wie nannte ihre Mutter sie – Rowdy gewesen? Ein Rocker? Hatte er Familie? Eine Frau irgendwo? Kinder vielleicht? Wie es wohl wäre, einmal im Monat seinen Mann zu besuchen? Ob sie ihm treu war? Ob sie ihm Plätzchen backte und ins Gefängnis schickte?
    Rune ließ das Band weiterlaufen und betrachtete das blasse, grobkörnige Bild auf dem Monitor.
    » Sie wollen wissen, wie es hier drinnen ist? «Jetzt zumindest schlich sich Verbitterung in die dünne Stimme des Mannes.
    » Lassen Sie mich erzählen, wie mein Tag anfängt. Wollen Sie das hören? «
    » Sie können mir erzählen, was Sie wollen « , sagte der unsichtbare Interviewer.
    » Man wacht um sechs auf, und das Erste, was man denkt, ist: Verdammt, ich bin ja immer noch da … «
    Eine Stimme quer durch den Raum: »Rune, wo bleibst du denn? Komm, wir gehen. Auf dem Brooklyn-Queens Expressway ist was umgestürzt.«
    Das Model stand von seinem Schreibtisch auf und zog einen London Fog Trenchcoat an, der ihn zehn Grad wärmer halten würde, als es an diesem Aprilnachmittag nötig war (aber das war okay, denn es handelte sich um einen Reporter-Trenchcoat). Er war so ein Senkrechtstarter – eines der Asse, die für die Hauptstadtnachrichten bei O&O zuständig waren, dem zum Sender gehörenden und von ihm betriebenen New Yorker Lokalsender, der zur Zeit auch Runes Arbeitgeber war. Siebenundzwanzig, rundes Gesicht, Schönling vom Typ Mittlerer Westen (irgendwie schien das Wort ›rötlich‹ auf ihn
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