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Halsknacker

Halsknacker

Titel: Halsknacker
Autoren: Stefan Slupetzky
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aus humoristischen Gründen als aus solchen beruflicher Selbstüberlistung: Um die ungeliebte Melodie nicht länger hören zu müssen, hebt er ab, der Polivka.
    Als eine der am eifrigsten befahrenen Durchzugsachsen Wiens führt der Heumarkt an der östlichen Flanke des Stadtparks entlang vom Schwarzenbergplatz Richtung Donaukanal. An manchen Stellen, so etwa im Bereich seiner Kreuzung mit der Johannesgasse, fächert er sich stolz zur vielspurigen Straße auf: ein hässliches, stinkendes Zeugnis dafür, dass die Stadtplanung nicht den Flaneuren, sondern nur den Chauffeuren dient. Der Heumarkt ist aber nicht immer so ein Menschenfeind gewesen. Durch seine Nähe zum Zentrum und durch seine Lage am Stadtpark zählte er einst zu den beliebtesten Wohnadressen Wiens. Von dieser Ära zeugt auch noch das eine oder andere alteingesessene Lokal, das hier zu finden ist: durchwegs verwitterte Schönheiten und gebrechliche, gedemütigte Helden.
    Vor dem Haus am Heumarkt Nummer 15 rotieren die Blaulichter. Der Polivka steigt ächzend aus dem Wagen und betrachtet die Biedermeierfassade. Kein Schild, kein Schriftzug lässt darauf schließen, dass das Erdgeschoß dieses Gebäudes ein Kaffeehaus beherbergt. Der Polivka schlägt seinen Mantelkragen hoch (das hat er im Fernsehen gelernt) und betritt das Café am Heumarkt.
    Er findet sich in einer luftigen, weitgehend schmucklosen Halle wieder, in einem jener L-förmigen Säle, wie sie alten Wiener Ecklokalen eigen sind. Vor einer mächtigen, zentral platzierten Marmorsäule röchelt eine hochbetagte Kühlvitrine vor sich hin, die Wände sind braun patiniert. Zwei ramponierte Karamboltische scheinen von Zeiten zu träumen, in denen das Wörtchen Kultur noch nicht mit Hedgefonds und ungesättigten Fettsäuren assoziiert wurde. Es ist ein großes, altes Tier, dieses Kaffeehaus, und es trägt den unaufhaltsamen Niedergang seiner Spezies mit Gleichmut.
    Der Polivka nestelt seine Zigaretten aus der Manteltasche, um sich eine anzuzünden – wo sonst, wenn nicht hier –, als ein Mann im weißen Arbeitskittel auf ihn zueilt und ihm einen Aschenbecher hinhält. »Net bös sein, gnä’ Herr, aber rauchen dürfen S’ da herinnen net. Sie wissen scho’, Umgebungsdings; wir san ja gesetzlich verpflichtet … Noch dazu, wo wir das Haus heut voller Kieberer haben.«
    »In Ordnung«, seufzt der Polivka und dämpft die Zigarette aus, »wo sind denn die Kollegen?«
    »Wen meinen S’ ’leicht? Welche Kollegen?«
    Der Polivka seufzt noch einmal. »Ich bin der Oberkieberer.«
    Die Kollegen befinden sich in einem kleinen, unwirtlichen Extrazimmer neben den Toiletten. An der Tür signalisiert ein Etikett, dass man in dieser Kammer sogar noch Tabak verbrennen darf – ein skandalöser Zustand in Zeiten der modernen Fettsäurekultur. Auf einem Sessel inmitten des Raumes sitzt die Leiche: ein blasses, zerknittertes Männchen in dunklem Jackett und schneeweißem Hemd. Sein grau melierter Kopf ist tief auf seine Brust gesunken. Blut ist keines zu sehen.
    »Genickbruch«, brummt ein hagerer Kollege dem Polivka entgegen. »Sagt der Doktor jedenfalls.«
    »Dir auch einen schönen Abend«, gibt der Polivka zurück. »Und wo ist er jetzt, der Doktor?«
    »Weg. Daheim wahrscheinlich.«
    »Und wer ist der Tote?«
    »Karl Hudak«, antwortet da eine Stimme in Polivkas Rücken. Der weiße Arbeitskittel ist ihm unauffällig gefolgt; er steht im Türrahmen und steckt sich eine Zigarette an. »Der Hudak«, sagt er jetzt und bläst eine Rauchwolke aus, »ist Stammgast bei uns, seit ich denken kann. Also seit immer.«
    »Jetzt nimmer.« Der Polivka zieht einen Stuhl heran und setzt sich. »Wann ist er denn heute gekommen?«
    »Gegen Mittag, wie üblich. Er hat sich die Zeitungen geschnappt und sich da hinten hereingesetzt. Früher, da hat er noch vorn seinen Stammplatz gehabt, gleich neben dem Ofen.«
    »Verstehe. Und wer war heut noch da herinnen?«
    »Fast niemand. Schauen S’ doch selbst«, der Kellner deutet durch die Glastür in den leeren Gastraum, »wir sind nicht mehr gefragt bei den Leuten. Die Heutigen gehen zuerst ins Fitnessstudio und dann in irgendeine durchdesignte Multivitaminbar, und die Gestrigen wollen nix wie ihre Ruh von diesem überkandidelten Schnickschnack. Nur, zur Ruh gehört halt auch, Sie wissen schon …« Der Kellner hält die Zigarette hoch.
    »Wo gehen sie denn stattdessen hin, die Gestrigen?«, fragt der Polivka, der bei Vernehmungen nicht selten abzuschweifen pflegt.
    »Die bleiben z’
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