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Hahn im Korb.

Hahn im Korb.

Titel: Hahn im Korb.
Autoren: Andrea Camilleri
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auf meiner Karteikarte stehen würde. Und nach einer raschen Bilanz war er zu dem Ergebnis gekommen: nichts. Das war seinerzeit ein Spiel der Eigenliebe, ein Vergleich zwischen sich und jenem Toten gewesen, von dem die Volksphantasie schon wenige Stunden nach seinem Ableben behauptete, er habe mit habgierigen Klauen selbst nach dem Rosenkranz gegriffen, der ihm aus christlichem Mitleid und dem Brauch gemäß um die Hände gewickelt worden war.
      Doch auch jetzt, nachdem die zwei Schüsse Vito zu einer Befragung seines Gewissens zwangen, als befände er sich vor dem Jüngsten Gericht, konnte er selbst bei krampfhaftem Überdenken der jüngeren Vergangenheit einfach nicht herausfinden, welche Fehler er versehentlich gemacht haben sollte. Er sah nichts anderes als eine Reihe von Worten und Handlungen, die allein schon aus dem Grund rechtens waren, weil er ihr Urheber war.
    Die Klassenkameraden in der Grundschule hatten ihm den Spitznamen »der Schatten« verpaßt: Er besaß nämlich die angeborene Fähigkeit, sich beim geringsten Anzeichen einer bevorstehenden Schlägerei aus dem Staub zu machen und erst dann wieder aufzutauchen, wenn die Friedenssonne hell am Zenit strahlte. So hatte er das Glück gehabt, bei keiner Gelegenheit Partei ergreifen zu müssen.
    Masino, ein impulsiver, tollkühner Kerl, auf den er als
    einen ehrlichen Freund zählen konnte, hatte es schon vor Zeiten aufgegeben, aus ihm eine Meinung herauszupressen, die auch nur einen Millimeter von der gängigen abwich.
      »Du bist wie ein Matrose«, sagte Masino zu ihm. »Du drehst dein Fähnlein nach dem Wind.«
      Nicht einmal das traf jedoch zu, denn Masinos Urteil setzte eine gewisse Portion an Opportunismus oder eine Lebenseinstellung voraus, von der sein Freund jedoch himmelweit entfernt war. Hätte er gekonnt, hätte er allen recht gegeben, doch da dies nun mal nicht möglich war, zog er es vor, sich aus dem Staub zu machen. Aus Angst, sich bloßzustellen, mied er selbst Wahlveranstaltungen, die mehr aus Langeweile und zum Zeitvertreib denn aus politischer Überzeugung stets gut besucht waren. Statt dessen ging er ins Kino oder machte einen einsamen Spaziergang an der Hafenmole.
      Vor Jahren auf einem Fest zu Ehren von San Calogero, dem schwarzen Frater und Dorfheiligen, der bis zum Fanatismus verehrt wurde, hatte sich Masino in Vitos Begleitung einem Verkaufsstand genähert, auf dem einige Pappmachéfiguren des Heiligen ausgestellt waren.
      »Was kostet diese Marionette?« hatte er den Händler gefragt.
    Und der, ein glühender ebenso wie streitbarer Verehrer des Heiligen, hatte deutlich den verächtlichen Ton von Masino herausgehört und erwidert: »Das ist keine Marionette, das ist San Calogero.«
      Masino tat scheinheilig, und da er den Kerl vor sich schnell durchschaut hatte, war er fest entschlossen, die Sache übel ausgehen zu lassen. »Ich wollte nicht wissen, wieviel San Calogero kostet, sondern diese Marionette da.«
    »Ja, spinnen Sie denn? Das ist keine Marionette!«
    »Nein?«
    »Nein.«
      »Wenn es keine Marionette ist, was zum Teufel ist es dann?«
      »Erklären Sie es ihm«, hatte der Händler mühsam an sich haltend zu Vito gesagt.
      Der hatte den gefährlichen Freudenblitz in den Augen des Freundes bemerkt und rasch nach einem salomonischen Urteilsspruch gesucht.
      »Es ist eine Marionette«, hatte er an Masino gewandt verkündet, »aber es ist auch San Calogero«, hatte er zum Standhändler hin abgeschlossen.
    In der Tat: Das wahre Erdenglück könnte in der richtigen
    Antwort liegen, die alle Seiten zufriedenstellt. Doch leider handelte es sich meistens weder um Marionetten noch um Heilige wie San Calogero. Mit den Jahren und der Erfahrung war es ihm schließlich gelungen, seine blühende Phantasie einzudämmen, die ihm in der Jugendzeit so schwer zu schaffen gemacht hatte, und folglich war er von den Gedanken, denen er die Freiheit ließ, konkrete Formen anzunehmen, zutiefst überzeugt. Wenn es nicht mehr weiterging, bediente er sich der Phantasie eines anderen – eines Menschen, der berufsmäßig damit Umgang hatte. In der Bibliothek seines Vaters hatte er zwischen dem unvermeidlichen Bastard von Palermo und den alten Sammelheften von Die illustrierte Szene eine der frühen Ausgaben von Die Historie vom rasenden Roland m it Illustrationen von Doré gefunden: Diese Lektüre, der er sich anfangs nur lustlos gewidmet hatte, war mit der Zeit zu einem streng eingehaltenen Ritual geworden. Wenn am Tag
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