Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hahn im Korb.

Hahn im Korb.

Titel: Hahn im Korb.
Autoren: Andrea Camilleri
Vom Netzwerk:
blickte um sich. Er fragte sich, aus welchem mysteriösen Grund nach einem nächtlichen Schuß selbst die Hunde in dieser verfluchten Gegend stundenlang verstummten, anstatt ihrem natürlichen Instinkt zu folgen und zu bellen; sie erschienen erst bei Tageslicht, mit gespieltem Gleichmut wie die Christenmenschen. Klagelaute vernahm er keine, wie sehr er auch sein Ohr anstrengte, und die zwei oder drei Gäßchen, die von der Piazza abgingen, hatte er bis in den letzten Winkel hinein abgesucht. Die Schüsse hatten weder er noch Tognin geträumt, das stand fest: Bei Tag würde er bestimmt etwas aufschnappen. Die Sizilianer, die sich des Rufs erfreuen, den Mund versiegelt zu halten, reden in Wirklichkeit – halblaut, verschlüsselt zwar, aber sie reden, man muß sie nur zu deuten verstehen. Es war sinnlos, noch länger hier herumzustehen. In diesem Augenblick tauchte Carbone mit verschlafenem Gesicht auf, noch damit beschäftigt, sich die Uniformjacke zuzuknöpfen.
    »Haben Sie etwas entdeckt, Maresciallo?« fragte er.
    »Nein, gehen wir in die Kaserne zurück.«
      Corbo und Carbone setzten sich in Bewegung und wußten, daß ihnen die Augen derer folgten, die sich bäuchlings auf den Balkonboden geworfen hatten, um die Straße zu beobachten, während ihre Frauen sie mit leiser Stimme vom Bett aus anflehten, sich ja nicht zu zeigen, sich um Gottes willen nicht einzumischen.
      Plötzlich hielt Corbo inne und gebot Carbone mit einer Handbewegung, keinen Schritt weiterzugehen. Vor ihnen bewegte sich vorsichtig eine Schattengestalt und drückte sich an der Mauer entlang. Corbo wartete, bis der Mann fast gegen ihn stieß.
    »Was haben wir denn, Mammarosa?« fragte er.
      Der Blinde zuckte zusammen, aber er erkannte sofort die Stimme. »Nichts. Ich kann einfach nicht schlafen, Maresciallo«, erklärte er. Sein Atem ging schwer, als wäre er gerannt, doch vor dem Mann, den er nicht sehen konnte, versuchte er ruhig zu werden, beinahe strammzustehen. Corbo empfand Mitleid mit ihm.
    »Geht nach Hause, wir begleiten Euch«, sagte er und hakte den Blinden unter. Schweigend legten sie das Stück Straße bis zur Behausung des Alten zurück. Vor der Tür konnte Mammarosa nicht mehr an sich halten.
    »Maresciallo …«, hob er an.
      Corbo, der, kaum daß er ihn gesehen, den Grund für sein Herumschleichen erahnt hatte, legte ihm einen Arm um die Schultern.
      »Versucht zu schlafen«, sagte er, »heute nacht ist nichts weiter passiert.«
      »Gott vergelt's Euch«, grüßte Mammarosa und trat in seine Kate.
    Stumm machten sie ein paar Schritte.
      »Seltsam, nicht wahr«, platzte Carbone heraus; er war aus dem Dorf und arbeitete schon seit drei Jahren an Corbos Seite.
    »Eben.«
    »Was machen wir? Gehen wir gleich zu Don Vito?«
      »Lassen wir ihn schlafen, wenn es ihm überhaupt gelingt«, meinte Corbo. »Morgen früh werden wir alle Zeit der Welt dazu haben.«
    Eines Tages, beim Begräbnis von Don Guido Incorvaja,
    ehemaliger Bürgermeister unter den Faschisten, ehemaliger Vorsitzender der katholischen Junker sowie ehemaliger politischer Sekretär, der sich vor allem als Dieb bis zum letzten Atemzug treu geblieben war, hatte Vito aus dem Mund einer Dorfgröße eine Grabrede vernommen, die eine Lobeshymne auf die makellose Unbescholtenheit des Verstorbenen war. Keiner der Anwesenden hatte die notwendige Courage besessen, auch nur die Mundwinkel zu einem Grinsen zu verziehen; viele Köpfe hatten sich geneigt, um die Maserung der Pflastersteine zu betrachten, und eine kleine Schar von Trauernden, die bekanntlich immer vor Incorvajas Karren gespannt war, hatte mit ernster Miene zugestimmt. Als der Trauerzug die mühsame Steigung zum Friedhof eingeschlagen hatte – sie haben ihn hinaufgebracht, sagte man im Dorf, und gemeint war dabei sowohl der körperliche Akt, den Toten auf den Gottesacker oben auf dem Hügel zu tragen, als auch der metaphysische des Aufsteigens in den Himmel oder der Aufnahme in die Hölle, je nachdem –, hatte Vito sich, inspiriert von den langsamen Klängen der Dorfkapelle in Paradeuniform, in einer seltsamen Gedankenspinnerei verloren. Er hatte sich vorgestellt, daß alle Einwohner des Dorfs im Zuge einer riesigen Polizeiaktion namentlich erfaßt wurden. Für jeden einzelnen wurde eine Karteikarte angelegt, auf der wahrheitsgetreu die verborgenen Schuldvergehen, die geheimen Laster, die vertuschten Fehler, die stummen Gedanken verzeichnet waren. Damals hatte er sich gefragt: Wer weiß, was wohl
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher