Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hahn im Korb.

Hahn im Korb.

Titel: Hahn im Korb.
Autoren: Andrea Camilleri
Vom Netzwerk:
einem weiteren Gewehrschuß zwischen den Schulterblättern erwischt worden. Er sprang auf, öffnete hastig die Haustür und schloß sie hinter seinem Rücken.
      Ein zweiter Schuß schlug in die Mauer ein, genau an derselben Stelle wie zuvor.

    Mit der Schreibfeder hatte der Maresciallo Corbo noch nie auf gutem Fuß gestanden: Einen Rapport zu schreiben, wie er es gerade tat, hatte ihn immer schon übermäßige Anstrengung gekostet. Deshalb war er beim ersten Schuß sofort auf den Beinen, und beim zweiten hatte er bereits die Mütze auf dem Kopf und das Maschinengewehr über den Schultern.
      »Du bleibst hier«, wies er Tognin an, der mit einem Satz aufsprang und dabei den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, umwarf, »und weckst Carbone. Sag ihm, ich bin hinter der alten Kirche. Die Schüsse kamen von dort.«
      Bevor er hinausging, sah er den Bauern an, auf den die zwei Schüsse wie Hammerschläge gewirkt hatten, die ihn ans Kreuz nagelten.
      »Wußtest du, daß das Fest zu Ehren von San Calogero dieses Jahr früher beginnt?«
      Dem Bauern verschlug es den Atem. Die respektlose Frage aus dem Mund des Maresciallo, der die Böllerschüsse zum Auftakt des Fests mit den zwei Schüssen aus der lupara verglich, die gewiß auf einen Christenmenschen abgegeben worden waren, hatte ihn zu Stein erstarren lassen.

    »Seien wir doch vernünftig, beim Allmächtigen,
    gebrauchen wir doch unseren Verstand.«
    Da gab es wenig zu überlegen, nicht nur sein Hirn, auch
    jeder einzelne Muskel seines Körpers weigerte sich, in die naturgegebene Ordnung zurückzufinden; er kam sich vor wie eine jener Quecksilbersäulen, die sich, wenn das Fieberthermometer kaputtgeht, in tausend winzige Kügelchen verwandeln, von denen jedes sein ungeordnetes und verwirrendes Eigenleben besitzt. Zwischen den krampfartigen Zuckungen, die sein Körper von Zeit zu Zeit an sein Bett weiterleitete, spürte er, wie Eisschauer über ihn liefen und eine dicke Schweißschicht die Kleider auf seine Haut festklebte.
      Vito war Stufe für Stufe, das Bein nachziehend, die Treppe hinaufgestiegen; ein anhaltender Klagelaut drang dabei durch seine verschlossenen Lippen. Erst nach einer Ewigkeit war es ihm gelungen, die Wohnungstür aufzuschließen und hinter sich zu verriegeln. Wie ein nasser Sack hatte er sich in voller Kleidung aufs Bett geworfen. Aus Angst, erneut zur Zielscheibe für den Schützen zu werden, der draußen auf der Lauer lag, hatte er es nicht gewagt, die Fensterläden zu schließen. Ja, als er sich gedankenlos eine Zigarette in den Mund gesteckt hatte, war er beim Anreißen des Streichholzes erstarrt, als besäße der unsichtbare Schütze die wundersame Fähigkeit, das Geschoß eine so komplizierte Bahn wie die einer Billardkugel nehmen zu lassen. Sein Mund war angstverzerrt. Deshalb mußte er seinen Gesichtsausdruck kaum verändern, als der unerträgliche Schreckensdruck einer rasenden Wut Platz machte, die ihn die Fäuste ballen ließ und die Tränen aus den Augen trieb.
      »Bastarde, dreckige Hurenböcke«, stieß er schluchzend hervor und preßte das Gesicht ins Kopfkissen.
    In den Fluch gegen den unbekannten Feind schloß er
    in einem Alptraum als Augen, Gesichter und Hände um sich herum versammelt spürte: Nicht eine einzige Stimme hatte sich erhoben, um im Anschluß an die Schüsse zu fragen, was denn passiert sei – und es war so sicher wie das Amen in der Kirche, daß sie aus dem ersten Schlaf geschreckt bis an die Decke gesprungen waren. Kein Schritt war auf der Piazza zu hören gewesen – wo sich die Leute doch tagsüber wie die Fliegen auf der Scheiße an den Angelegenheiten der anderen weideten, bis ihnen der Bauch platzte. Nichts. Grabesstille, das war das passende Wort. So absurd es auch war, ihn quälte diese Gleichgültigkeit, die ihn in einem einzigen Augenblick zu einem Aussätzigen, zu einem aus der Gesellschaft Verstoßenen machte – schlimmer als der Tod, dem er nur knapp entgangen war. Er hätte ebensogut noch dort vor der Haustür liegen und im eigenen Blut ertrinken, vielleicht sogar um den Gnadenschuß bitten können, keiner hätte seinetwegen auch nur einen Finger gerührt. Bis zum frühen Morgen, wenn schließlich der Straßenfeger oder ein vorbeifahrender Kutscher in geheucheltem Erschrecken einen Schrei ausgestoßen hätte, denn auch sie, diese Hundesöhne, mußten die Schüsse gehört haben.
    »Was habe ich denn getan, was habe ich bloß getan?«
    Der Maresciallo Corbo stand reglos auf der Piazza und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher