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Hafenweihnacht

Hafenweihnacht

Titel: Hafenweihnacht
Autoren: J.M. Soedher
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Unbekannten lag. Advent war weit entfernt.
    Er ging weiter, wobei es ihm nicht darum ging, sich einen Überblick über die Situation um den Tatort herum zu verschaffen. Immer noch tauchten so viele unterschiedliche Bilder vor ihm auf – und diese Melodie, die Josef geblasen hatte, die bekam er auch nicht mehr aus dem Sinn. Dazwischen die Eindrücke, die der festgefrorene Leichnam hinterlassen hatte. Es war ihm unmöglich, sich in der erforderlich nüchternen Weise mit etwaigen Zeugen zu unterhalten. In den bedrohlichen Schatten von Löwen und Leuchtturm, diesem sonst so erhebend wirkenden, ungleichen Paar, war es ihm aber auch nicht besser.
    Immer wieder tauchte das Gesicht vor ihm auf. Dieser lebendige und im wahrsten Sinne des Wortes gefrorene Schmerz, dieses Leiden im Gesicht des Toten – ein Leiden, wie es nur ein Grünewald malen konnte. Was war mit diesem Mann geschehen? Es fiel Schielin schwer, seine Gedanken in sachbezogene und routinierte Bahnen zu lenken. Was hatte dieser Unbekannte in der Nacht auf dem Steg gewollt? Seine Kleidung ließ nicht vermuten, dass er in einem der Hotels im Hafen beschäftigt war, und es war ebenso unwahrscheinlich, dass er ein Mitarbeiter der Schifffahrtsbetriebe war. Zwar lag an dem Steg die Königin Katharina; sie war aber nicht für eine der Adventsfahrten auf dem See vorgesehen. Am ehesten konnte es noch sein, dass der Mann zu den Arbeitern gehörte, die das Budendorf für die Hafenweihnacht aufgebaut hatten.
    Er vergrub seine Hände tief in den Manteltaschen, wo ein Rest Wärme vorhanden war. Ein Blick zur Uhr am Leuchtturm sagte ihm, dass es noch zu früh war, um im Teebazar bei einer heißen Tasse wieder auf Betriebstemperatur zu kommen. Zu früh, schade.
    *
    Erich Gommert hatte alle Aufträge, die Lydia ihm telefonisch aufgegeben hatte, umgehend ausgeführt. Alleine ihre kurze Schilderung dessen, was sich gerade am Seehafen abspielte, ließ Gommi grausen und schaudern: die beißende Kälte, ein festgefrorener Toter, der aufgetaut werden musste … schrecklich … und ausgerechnet jetzt, mitten im Hafen, und damit genau an jenem Ort, wo die vielen Leute auf der Suche nach Weihnachtsseligkeit waren, nach warmem Glühwein, warmen Herzen, gebrannten Mandeln und dem einen oder anderen Geschenk. Er selbst hatte sich schon so gefreut, auf das Lichtermeer, den Budenzauber, die Düfte, das heimelige Gedränge und die Freunde, mit denen sie das genießen wollten. Es war ihm gar nicht recht, nun so ganz alleine auf der Dienststelle zu sein. Kimmel, der Chef, hatte einen Arzttermin, und die Jüngste, Jasmin Gangbacher, war für zwei Wochen auf einem Lehrgang in München. Robert Funk war nur kurz auf der Dienststelle gewesen, bloß um den Spusi-Koffer zu holen. Er musste zu einem Einbruch in Nonnenhorn fahren. Wenigstens lag Hundle dösend in der Ecke und ließ sich von der inneren Unruhe seines Herrchens nicht anstecken, dem die Gedanken an den Toten, an die Adventszeit und an die Kälte einige Male einen klagenden Laut entfahren ließ.
    Ansonsten ging Gommi konzentriert seinen Verrichtungen nach. Das war kein gutes Zeichen, murmelte er immer wieder, kein gutes Zeichen, so eine Sache, in der Adventszeit.
    Sorgsam goss er den Kaffee mit brühendem Wasser auf. Der würzige Duft beruhigte ihn. Der Wasserkocher hatte zuvor schon seine Dienste verrichtet und zwei Wärmflaschen lagen nun unter den dünnen Sitzkissen auf der Bank. Am Tisch hatte er die große rote Kerze angezündet und die Dose mit Plätzchen stand ebenfalls bereit. Wenigstens hier, im Besprechungs- und Kaffeeraum auf der Dienststelle, sollten ein wenig Wohligkeit und Behaglichkeit herrschen, wenn Schielin, Wenzel und Lydia vom Seehafen zurückkamen.

    Lydia Naber verlor keinen Ton, als sie einige Zeit später den Besprechungsraum betrat und mit einem Mal jene innere und äußere Kälte von ihr abfiel, die ihren Körper und ihre Seele seit dem Morgen eingeschnürt hatte. Wenzel hockte schon in der Ecke und wärmte sich die Hände an der heißen Tasse Kaffee, während Schielin in der Ecke kniete und Hundle streichelte. Gommi saß am Tisch und füllte Zucker in die alte Dose, deren Deckelränder schon arg abgeschlagen waren, doch niemand wollte auf die blauen Vergissmeinnicht verzichten, die die Außenschale zierten. Die vorgeheizten Kissen, der Kaffeegeruch, die Kerze, die Plätzchendose … Lydia Naber warf Wenzel einen stillen Blick zu und der blinzelte zurück. Als sie sich schließlich auf das warme Kissen setzte und
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