Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hafenweihnacht

Hafenweihnacht

Titel: Hafenweihnacht
Autoren: J.M. Soedher
Vom Netzwerk:
erforderlich, um sich auszutauschen. Er trat vorsichtig an die Leiche heran. Es war wie Lydia geschildert hatte und obschon er durch ihren genauen Bericht eine Vorstellung von dem hatte, was ihn erwarten würde, erschrak er, als der grelle Lichtstrahl seiner MagLite auf das fahle Gesicht traf. Es sah aus, als litte der Tote immer noch Schmerzen, als spüre er diese beißende Kälte und das Eis, das wie ein dünner Mantel auf und um ihn lag, und ihn an den harten Teer des Steges band. Die langen Haare verteilten sich wirr auf dem Asphalt und zwischen den braunen Strähnen hatten sich hell glänzende Eiskristalle gebildet. »Todesengel«, fuhr es Schielin in den Sinn, »wie ein Todesengel.«
    Oberhalb der linken Schläfe waren Blutanhaftungen zu erkennen. Wie groß die Verletzung war, die sich auf der linken Schädelseite befand, war nicht zu auszumachen. Schielin ließ den Schein der Lampe eine Weile auf dem Gesicht verweilen, das ihm gänzlich unbekannt war. Der Tote hatte einen gedrungenen Körper, trug Jeans, Trekkingschuhe und einen dunkelblauen Winterparka mit gestepptem Innenteil. Das Stirnband war abgerutscht und hing in der offenen Kapuze des Parkas. Schielin schätzte den Toten auf Mitte vierzig. Als die Feuerwehr damit begann das Zeltdach aufzuspannen, verließ Schielin den Ort und ging zurück zu Lydia, die gerade Notizen fertigte. »Wissen wir schon, wer das ist?«
    Sie schüttelte den Kopf und schrieb konzentriert weiter.
    Er sah noch mal zurück zum Steg. »Es liegt eine dünne Schneedecke und sich sehe überhaupt kein Blut. Wenn ihm der Schädel eingeschlagen worden wäre, müsste doch Blut zu sehen sein – gerade im Schnee –, aber nichts. Das kommt mir doch seltsam vor, was meinst du?«
    Lydia zuckte mit den Schultern. »Weiß ich im Moment auch noch nicht. Aber du hast recht, es ist eine ziemlich unblutige Geschichte.«
    Wenzel kam dazu. Er war etwas außer Atem und Anspannung lag in seiner Stimme. »Wir werden es mit Lötlampen versuchen, von unten her. Ich habe gerade mit den Kollegen von der Polizeiinspektion telefoniert, die die Dinger besorgen sollen; am Bauhof, und wenn es dort nicht klappt, dann sind die Dachdecker und Installateure dran.« Seine Hand wies in Richtung Mole. »Die Wasserwacht fährt mit zwei Booten unter den Steg und wir erhitzen mit den Lötlampen die Metallträger von unten her, und hier oben im Zelt bauen wir einen Gasofen auf, so wie im Bierzelt … damit müssten wir das Eis halbwegs schonend auflösen und ihn vom Boden abnehmen können, ohne dabei zu viele Spuren zu zerstören. Gefilmt und fotografiert ist bereits alles und wir dokumentieren natürlich den gesamten Vorgang.« Er sah zum Zelt, dessen Aufbau fast abgeschlossen war. Dieser Tatort stellte selbst für den erfahrenen Wenzel eine besondere Herausforderung dar. Er atmete laut aus. »So was aber auch … also so was habe ich noch nicht erlebt … und ausgerechnet jetzt zur Hafenweihnacht. Jetzt müssen wir halt warten … warten, dass es klappt mit dem Aufheizen und mit den Lötlampen, aber ich hatte keine bessere Idee.«
    Schielin fand die Idee fantastisch und hatte keine Bedenken, dass es Wenzel nicht gelingen könnte. Und warten? Nun gut. Wenn sie ihr Beruf an etwas hatte gewöhnen lassen, so war das Warten. Überhaupt war es die Beherrschung so inaktiver Tätigkeiten wie Warten können und Schweigen können , die erforderlich waren, um ihren Beruf erfolgreich auszuüben. Die aktivere Befähigung bestand darin, Entscheidungen zu treffen. Es war im Grunde genommen verrückt und passte nicht zu dieser Gesellschaft, in der das Spektakel als solches immer ausufernder um sich griff: ausgerechnet warten, schweigen und entscheiden – und das in einer Welt der Ungeduld, in einer Welt vollem unnützen Gequatsche und der ständigen Verfügbarkeit von Optionen. Verrückt.
    Die Boote der Wasserwacht glitten aus dem dunklen Schatten der Löwenmole und landeten am Steg an. Der Löwe hockte, seinen Blick wie immer von der Stadt abgewandt, auf dem Sockel und starrte hinaus auf den See, imposant wie immer, und im Dunkel dieses Morgens waren seine Konturen mit einem Hauch Düsternis umgeben. Der Leuchtturm zur anderen Seite erhob sich in drohendem Schwarz. Nichts war adventlich an diesem kalten Morgen. Keines der Lichter wärmte Seele oder Herz, denn die, die brannten, schienen grell auf, denn sie sollten nicht wärmen, sondern sie mussten leuchten.
    Schielin fragte nach der Putzfrau, die den Toten gefunden hatte, und Lydia
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher