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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Autoren: Andreas Winkelmann
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Zimmer aus. Der Junge bekam keine Luft mehr, riss
den Mund weit auf, doch nur flüssiges Feuer drang in seinen Rachen ein und verbrannte seine Lunge. Die kräftigen Arme seiner Mama hielten ihn fest, sie wollte mit ihm zur Tür laufen, sank auf halbem Weg in die Knie, ließ ihn jedoch nicht los. Zusammen kippten sie auf den Teppich, auf dem noch die Spielsteine vom Nachmittag verstreut lagen. Mamas Lippen waren dicht an seinem Ohr.
    »Niemand nimmt dich mir weg!«, rief sie. »Ich werde dich finden, überall!«
    Dann wurde alles schwarz. Und aus dem Dunkel kam der Riese.

Teil I
    Gegenwart

Montag
    »Herr Trotzek, das Gericht hat mich zu Ihrem Verteidiger bestellt. Sind Sie darüber informiert worden?«
    Seitdem Sebastian Schneider den quadratischen, gelb getünchten Raum betreten hatte, hatte Trotzek ihn nicht aus den Augen gelassen. Der kleine breitschultrige Mann mit dem kahl rasierten Schädel saß regungslos auf seinem Stuhl, lediglich seine Augen verrieten Aufmerksamkeit. Sie wirkten hellwach, waren flink, folgten jeder seiner Bewegungen, taxierten ihn. Schon nach wenigen Minuten spürte Sebastian Schweißtropfen seine Wirbelsäule hinabrinnen. Merkwürdig! Der Besprechungsraum war doch kühl. Lag es an der ungewohnten Situation oder an diesem kleinen Mann? Würde er ohne sein Hintergrundwissen genauso auf ihn reagieren? Menschen definieren sich durch ihre Taten, gerade in der Wahrnehmung anderer. Unbeschriebene Blätter sind weiß, unschuldig, rein. Trotzeks Blatt war beschrieben und triefte vor Blut. Sebastian konnte also gar nicht anders, als eine gewisse Furcht zu empfinden. Vor seinem geistigen Auge tauchten Fotos auf. Auch die Aufnahme der Tatwaffe. Wie konnte ein so kleiner Mann einen so schweren Hammer schwingen?
    Trotzek nickte schwerfällig, sagte aber nichts.
    Sebastian wusste, dass er sich besser hinsetzen sollte, um eine persönliche Beziehung zu seinem Klienten herzustellen. Proxemik, die Lehre der kleinräumigen Verhaltensweisen, sagt, dass die persönliche Distanz zwischen fünfundvierzig
und hundertzwanzig Zentimetern liegt. Das Studium war noch nicht lange her, er wusste all diese Dinge, aber wollte er überhaupt eine persönliche Beziehung zu diesem Mann? Dieser eine Schritt auf den am Boden verschraubten Tisch zu erschien ihm wie der Schritt in eine Welt, in die er nicht gehörte und aus der es keine Wiederkehr gab. Trotzdem würde er diesen Schritt wohl gehen müssen. Vor ihm saß sein Klient, sein Chef wollte es so, er hatte gar keine Wahl. Also erfasste Sebastian die Lehne, zog den Stuhl etwas vom Tisch weg (die Spanne ging bis hundertzwanzig Zentimeter, warum sie nicht ausnutzen!) und setzte sich. Zusätzlich legte er seinen schwarzen Koffer auf den Tisch – eine kleine Barriere zwischen Trotzek und ihm, kein wirklicher Schutz, aber immerhin.
    Die Akte Trotzek lag im Koffer, also hatte Sebastian nichts, worin er herumblättern konnte. Er musste sein Gegenüber ansehen, ihm in die Augen blicken, in diese kleinen, hellblauen, rot geränderten, nervösen Dinger. Unsympathische Augen. Nein, verdammt, das waren Vorurteile! Er musste seine Vorurteile in den Griff bekommen, sonst konnte er es gleich sein lassen. Vor ihm saß ein Klient, kein Mörder.
    »Sie wollen keinen Verteidiger, richtig?«, versuchte Sebastian es auf die ehrliche Tour.
    Trotzek schüttelte den Kopf.
    »Nein.«
    Das erste Wort zwischen ihnen. Ein negatives Wort, ein Wort wie ein hoher Zaun. Sebastian verfluchte sich innerlich, missachtete er doch die Spielregeln einer erfolgreichen Kommunikation.
    »Warum nicht?«, setzte er nach, um zu retten, was noch zu retten war. Seinen kleinen Koffertrick hätte er sich sparen
können. Trotzek schien viel mehr daran gelegen, Barrieren aufzubauen, als ihm selbst. Der kleine Mann unterstrich dies noch durch seine leise gestellte Frage: »Was wollen Sie?«
    Sie starrten sich an. Trotzeks Augen huschten nicht mehr umher, waren jetzt nur noch auf ihn gerichtet. Die Stimme des Mannes wollte nicht zu dem Körper passen. Sie klang wie die eines großen Kerls, der über einen riesigen Resonanzraum verfügte. Vielleicht lag es aber auch nur an dem osteuropäischen Akzent.
    »Ich will Ihnen helfen.«
    Trotzek schüttelte behäbig den Kopf. »Man zwingt Sie.«
    »Das sehen Sie falsch. Das Gericht hat mich zwar zu Ihrem Pflichtverteidiger bestellt, ich hätte aber ebenso gut ablehnen können.«
    Und das war eine Lüge, wie sie dreister nicht sein konnte. Seine Kanzlei, Oltmanns, Steyer und
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