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Gute Nacht, Peggy Sue

Gute Nacht, Peggy Sue

Titel: Gute Nacht, Peggy Sue
Autoren: Tess Gerritsen
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an seiner Krawatte, als drückte sie ihm die Luft ab.
    M. J. stieß die Glastür auf und betrat die Halle. »Mr. Quantrell?«
    Der Mann wirbelte herum und sah sie an. Er hatte weizenblondes, sorgfältig frisiertes Haar. Seine Augen waren weder ganz blau noch eindeutig grau, changierten eher wie die Färbung des Himmels im Frühling. Er war alt genug … Anfang vierzig vielleicht …, um die Charakterfalten um die faszinierenden Augen und ein paar graue Haare an den Schläfen mit Würde zu tragen. Unter anderen Umständen hätte sie es genossen, die Bekanntschaft dieses Mannes zu machen. Jetzt allerdings wirkte sein Gesicht vor innerer Anspannung wie versteinert.
    »Ich bin Dr. Novak«, sagte sie und streckte die Hand aus. Er griff so automatisch und schnell danach, als wolle er die Formalitäten rasch hinter sich bringen.
    »Adam Quantrell«, erwiderte er. »Sie haben auf meinen Anrufbeantworter gesprochen.«
    »Gehen wir in mein Büro. Dort können wir warten, bis die Polizei …«
    »Sie haben etwas von einer Frau gesagt«, schnitt er ihr barsch das Wort ab. »Daß die Polizei eine Frau ins Leichenschauhaus gebracht hat.« Nein, er war nicht unhöflich, entschied M. J. Er hatte einfach nur Angst.
    »Ist vermutlich besser, wir warten auf Lieutenant Beamis«, sagte sie. »Er kann die Sachlage erklären.«
    »Warum erklären
Sie
mir nicht, worum es geht?«
    »Ich bin nur die Gerichtsmedizinerin, Mr. Quantrell. Ich kann keine Informationen weitergeben.«
    Der Blick, der sie traf, war vernichtend. Plötzlich wünschte sie sich größer zu sein, um unter diesem Blick nicht völlig zu versinken. »Dieser Lieutenant Beamis«, sagte er. »Er ist von der Mordkommission, oder?«
    »Ja.«
    »Dann geht es um Mord.«
    »Spekulationen dieser Art stehen mir nicht zu.«
    »Wer ist die Tote?«
    »Wir konnten sie noch nicht identifizieren.«
    »Dann wissen Sie es also noch nicht.«
    »Richtig.«
    Er überlegte. »Lassen Sie mich die Leiche sehen.« Das war keine Bitte, sondern ein Befehl. Er schien zu allem entschlossen zu sein.
    M. J. starrte auf die Tür und fragte sich, wann Beamis endlich aufzukreuzen gedachte. Ihr Blick schweifte wieder zu ihrem Gegenüber. Sie merkte, daß er sich nur mühsam beherrschte.
Er hat panische Angst, panische Angst, daß die Leiche in meinem Kühlfach jemand ist, den er kennt und liebt.
    »Deshalb haben Sie mich doch angerufen, oder?« sagte er.
    »Sie wollen wissen, ob ich sie identifizieren kann?«
    Sie nickte. »Das Leichenschauhaus ist im Keller, Mr. Quantrell. Kommen Sie mit.«
    Er ging schweigend neben ihr her. Sein sonnengebräunter Teint wirkte grau im Schein der Neonbeleuchtung. Während der Fahrt ins Kellergeschoß blieb er stumm. Sie hob einmal den Kopf und sah, daß er starr geradeaus schaute, als habe er Angst, etwas zu sehen, das ihn den letzten Rest an Beherrschung kosten könnte.
    Als sie aus dem Lift traten, blieb er stehen. Sein Blick schweifte über den bröckelnden Putz an den Wänden, das brüchige, abgetretene Linoleum. Über ihnen flackerten die Neonröhren. Das Gebäude war alt, und hier im Kellergeschoß konnte man den Verfall an der abblätternden Farbe, den rissigen Mauern ablesen, konnte ihn mit jedem Atemzug einatmen. In einer Situation, wo die ganze Stadt dem Verfall anheimgefallen war, wo jedes öffentliche Amt, vom Sozialdienst bis zur Müllabfuhr, um den ständig schwindenden Anteil am Steueraufkommen kämpfte, war das Amt der Gerichtsmedizin immer das letzte in der Kette. Tote Bürger wählten nicht.
    Falls Adam Quantrell überhaupt bewußt Notiz von dieser Umgebung nahm, erwähnte er es mit keinem Wort.
    »Diesen Gang entlang«, forderte M. J. ihn auf.
    Wortlos folgte er ihr zur Leichenhalle.
    An der Tür blieb sie stehen. »Die Leiche ist hier drin«, sagte sie. »Sind Sie … glauben Sie, daß Sie dem gewachsen sind?«
    Er nickte.
    Sie führte ihn hinein. Der Raum war grell erleuchtet. Die Helligkeit schmerzte beinahe in den Augen. Kühlfächer bedeckten die rückwärtige Wand. Einige waren mit Namen und Nummern gekennzeichnet. Um diese Jahreszeit war die Tendenz bei der Auslastung der Kühlfächer steigend. Das frühlingshafte Tauwetter und wärmere Temperaturen lockten Pistolen- und Messerhelden wieder auf die Straßen. Die letzte Ernte an Opfern bevölkerte nun die Kühlfächer. Sie hatten drei weibliche Unbekannte auf Lager, und M. J. griff nach der Schublade mit der Nummer 373-4-3-A. Sie hielt inne und sah Adam an. »Wird kein angenehmer Anblick sein.«
    Er
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