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Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Chelsea Cain
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es im Labor habe. Aber von der Größe her könnte es menschlich sein.«
    Der Streifenpolizist packte seinen Hut ein wenig fester. »Wir dachten, wir sollten Sie lieber verständigen«, sagte er.
    Gretchen hatte einigen ihrer Opfer die Milz entfernt. Sowohl vor als auch nach deren Tod. Aber sie hatte Leichen auf ihrem Weg zurückgelassen, keine Organe. »Das war nicht Gretchen Lowell«, sagte Henry. Es passte nicht. Keine Leiche. Keine Signatur. »Es ist nicht ihr Stil.«
    »Henry«, sagte Claire. »Sieh dir das an.«
    Henry drehte sich zu ihr um. Sie stand mit dem Gesicht zur gegenüberliegenden Wand, hinter den Kabinen. Auf dem Boden hatte sich Wasser gesammelt, wo die Toilette übergelaufen war, und Henry musste darum herumgehen. Seine Aufmerksamkeit wechselte zwischen seinen neuen schwarzen Cowboystiefeln und dem Spiegelbild seiner mächtigen Gestalt in der Pfütze. Als er bei Claire ankam, blickte er auf.
    Das Graffito war neu. Andere gekritzelte oder gekratzte Betrachtungen waren von den sauber ausgeführten, dicken roten Linien überdeckt worden. Dieselbe Form, ein ums andere Mal. Henrys Nackenhaare sträubten sich, er straffte die Schultern. »Scheiße«, sagte er.
    »Wir müssen es Archie sagen«, drängte Claire leise.
    »Archie Sheridan?«, fragte der Polizist. Er trat vor, seine schwarzen Stiefel patschten durch die Pfütze.
    Archie hatte die Task Force geleitet, die Gretchen gejagt hatte. Es hatte ihn zum berühmtesten Polizisten im Bundesstaat gemacht, im Guten wie im Schlechten.
    »Ich habe gehört, er wird stationär behandelt«, sagte der Gerichtsmediziner vom Waschbecken her.
    Stationäre Behandlung, dachte Henry. Was für ein hübscher Euphemismus. »Offiziell ist er Zivilist, bis sein Geisteszustand für unbedenklich erklärt wird«, sagte Henry.
    »Wir müssen ihn anrufen«, wiederholte Claire.
    Henry blickte wieder zu der Wand. Hunderte winziger Herzen, mit einem roten Filzstift exakt ausgeführt. Sie bedeckten alles, löschten alles aus. Das Herz war Gretchens Signatur. Sie meißelte es allen ihren Opfern ein. Sie hatte es Archie eingemeißelt.
    Und jetzt war sie wieder da.

 
_ 3 _
    Die Besuchszeit in der Psychiatrischen Abteilung des Providence Medical Centre war lange vorbei. Henry fuhr im hinteren Aufzug zu einem kleinen Wartezimmer mit einer verschlossenen Tür, einem Telefon, zwei Stühlen und einem Tisch mit einem Anmeldeformular und einem Stapel Broschüren von Al-Anon, der Selbsthilfeorganisation für Angehörige. Henry füllte das Anmeldeformular nicht aus. Niemand füllte es jemals aus.
    Er griff nach dem Telefon, das ihn automatisch mit der Schwesternstation in der Abteilung verband.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, meldete sich eine weibliche Stimme. Die Frau klang nicht, als würde sie es ernst meinen.
    »Ich muss Archie Sheridan sehen«, sagte Henry. Er erkannte die Stimme nicht. Er kannte die Nachtschwestern nicht. »Mein Name ist Henry Sobol. Es geht um eine polizeiliche Angelegenheit.«
    Es gab eine längere Pause. Schließlich: »Warten Sie!«
    Nach einigen Minuten summte die Tür, dann sprang sie auf und gab den Blick auf eine müde aussehende Frau in einem Kittel und einer peruanischen Strickjacke frei. »Ich lasse Sie nur ein, weil er gesagt hat, er will Sie sehen«, sagte sie mit einem schmallippigen Lächeln.
    »Ich kenne den Weg«, sagte Henry. »Ich bin dreimal in der Woche hier.«
    »Ich begleite Sie trotzdem«, sagte die Schwester.
    Es gab keine Fernseher in den Zimmern, aber Henry hörte Animal Planet aus dem Aufenthaltsraum dröhnen. Im Aufenthaltsraum lief immer Animal Planet. Henry wusste nicht, warum.
    Die Station war am Anfang ein Schock gewesen. Neonlampen, Linoleumfliesen auf dem Boden, Patienten in grünen Krankenhauskitteln. Wo man hinsah, Verweise auf Selbstmordgefahr – die Patienten trugen nur Socken, damit sie sich nicht mit ihren Schnürsenkeln erhängen konnten, die Mülltüten waren aus Papier, damit sich die Patienten keine Plastiktüten über den Kopf stülpen konnten, die Essbestecke waren aus Plastik, damit sich die Patienten nicht in die Halsschlagader stechen konnten, und die Spiegel waren Metallfolien, damit sich niemand mit einer Scherbe das Handgelenk aufschneiden konnte. Es gab keine Steckdosen in den Zimmern, keine elektrischen Kabel.
    Archie hatte nun zwei Zusammenstöße mit Gretchen Lowell gehabt, beide hätten ihn fast das Leben gekostet. Er war schmerzmittelsüchtig. Sie hatte mit seiner Psyche gespielt. Henry wusste besser als jeder
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