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Grabstein - Mùbei: Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962 (German Edition)

Grabstein - Mùbei: Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962 (German Edition)

Titel: Grabstein - Mùbei: Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962 (German Edition)
Autoren: Yang Jisheng
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miterlebt, was mir die Augen weiter geöffnet hat. Das Blut der jungen Studenten hat mir all die Lügen der vergangenen Jahrzehnte aus dem Gehirn gewaschen. Als Nachrichtenjournalist habe ich alles darangesetzt, Meldungen und Kommentare zu veröffentlichen, die der Wahrheit entsprachen; als Wissenschaftler habe ich die Pflicht, der Geschichte ihr wahres Gesicht zurückzugeben und den Vielen, die ebenfalls getäuscht wurden, die Wahrheit zu sagen.
    Bei meinen Bemühungen, die Täuschung abzuschütteln und die Wahrheit zu suchen, wurde mir Schritt für Schritt klar, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund mein Vater gestorben war. Obwohl das alles schon einige Jahrzehnte zurücklag, drang ich Tag für Tag tiefer in die Gründe ein, die zum Tod meines Vaters geführt hatten, und meine Sehnsucht nach ihm wurde Tag für Tag größer. Anfang der 80er Jahre entstand in meinem Heimatort die Mode, für die Ahnen Grabsteine zu errichten. Vor allem für solche, die es »draußen« zu etwas gebracht hatten und hohe Beamte geworden waren, errichtete man imposante Grabmale.
    Freunde und Verwandte ermahnten auch mich, meinem Vater ein solches Grabmal zu errichten. Ich dachte, ich bin zwar kein hoher Beamter geworden, aber der Grabstein für meinen Vater soll imposanter werden als der für die hohen Beamten. Trotzdem musste ich an das Schicksal der Grabsteine denken, die in meinem Dorf 1958 errichtet worden waren. Die einen wurden für Wasserbaueinrichtungen abgebaut, aus anderen hat man die Sockel für die kleinen Hochöfen während des Großen Sprungs gebaut, mit wieder anderen hat man die Straßen gepflastert und Millionen Menschen sind über sie hinweggetrampelt.
    Je imposanter die Grabmale, um so größer die Gefahr, dass sie abgerissen wurden. Es war unumgänglich, meinem Vater einen Grabstein zu errichten, aber es durfte kein Stein sein, der auf der Erde stand, er musste in den Herzen aufgestellt werden. Auf einem Stein, der in die Herzen gesetzt ist, kann man nicht herumtrampeln und er kann nicht wieder entfernt werden.
    In meinem Herzen habe ich meinem Vater tatsächlich einen Grabstein errichtet. Dieses Buch ist die Inschrift, die ich in ihn meißele. Auch wenn ich längst von dieser Welt verschwunden sein werde, die Stimme meines Herzens, die durch diese Inschrift spricht, wird in den großen Bibliotheken der Welt bleiben.

2
    Die Tragödie, die sich in meiner Familie abgespielt hat, hat sich auch in Millionen anderer Familien im ganzen Land abgespielt.
    Der Leser wird im Kapitel 11 dieses Buches Verweise auf das vielfältige Material aus dem In- und Ausland finden, das bestätigt, dass zwischen 1958 und 1962 in China 36 Millionen Menschen verhungert sind. Aufgrund des Hungers ist die Geburtenrate gesunken und es kamen 40 Millionen weniger Kinder zur Welt.
    In vielen Provinzen war fast jede Familie betroffen, viele wurden vollständig ausgelöscht, in manchen Dörfern sind sämtliche Bewohner ums Leben gekommen. Das passt zu zwei Zeilen aus »Dem Seuchengott zum Geleit«, einem Gedicht Mao Zedongs aus dem Jahr 1958: »Tausend Dörfer sind öde und leer, in zehntausend Hütten traurig der Geister Gesang.«
    Was hat man sich darunter vorzustellen, wenn man sagt, 36 Millionen Menschen sind verhungert?
    Das sind 450mal so viele Menschen wie die, die dem Abwurf der Atombombe am 9. August 1945 auf Nagasaki zum Opfer fielen. [1]  
    Es sind 150mal so viele Menschen wie die, die das große Erdbeben von Tangshan am 28. Juli 1976 in den Tod riss. [2]  
    Es sind mehr als alle Toten des gesamten Ersten Weltkriegs.
    Das Ausmaß des Schreckens dieser Hungersnot übersteigt bei weitem den Schrecken der Kriegshandlungen des Zweiten Weltkriegs. Im Zweiten Weltkrieg sind zwischen 40 und 50 Millionen Menschen ums Leben gekommen. [3]   Aber zu diesen 40 bis 50 Millionen Menschen ist es im Verlauf von sieben, acht Jahren in Europa, Asien und Afrika, also einem riesigen Gebiet, gekommen; die 36 Millionen sind alleine in China und innerhalb von nur drei, vier Jahren gestorben, wobei in den meisten Gebieten die Hauptzahl der Opfer während eines halben Jahres zu beklagen war.
    Diese Zahl stellt alle bisherigen Katastrophen in der chinesischen Geschichte in den Schatten: Die höchste Opferzahl, die in der chinesischen Geschichte verzeichnet ist, bezieht sich auf die Opfer der Naturkatastrophen zwischen 1928 und 1930, von denen alle 22 Provinzen betroffen waren. Diese Zahl überstieg bereits alles zuvor Dagewesene, aber sie belief
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