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Gottesdienst

Titel: Gottesdienst
Autoren: M Gardiner
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besagten Nacht haben Sie das Areal ohne Erlaubnis betreten, richtig?«
    »Hat ja keiner gesagt, dass ich das nicht darf.« Unter der hohen Saaldecke wirkte die Zeugin winzig. Ihr Gesicht loderte vor Grimm und erinnerte mich an die Gesichter der Demonstranten.
    Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken, und das Flugblatt knisterte leise in meiner Tasche – ein Vorbote des Sturms, der am Horizont aufzog. Wenn Tabitha für diese Kirche tätig war, dann war sie auch in der Nähe. Sie war zurückgekehrt.
    Wie sollte ich das bloß meinem Bruder beibringen? Wie seinem kleinen Jungen?
    »Lassen Sie es mich anders formulieren«, fuhr Jesse nun fort. »Niemand hat Ihnen die Erlaubnis gegeben, mit einem nachgemachten Schlüssel nach Ladenschluss den Buchladen zu betreten, oder?«
    »Nein«, gab die Frau zu. »Ich habe mir aus eigener Initiative das Recht genommen.«
    »Und dieses Recht war nicht das Einzige, was Sie genommen haben, oder, Miss Gaul?«
    Jesse lehnte sich nach vorne. Seine kräftigen Schultern zeichneten sich unter dem Jackett ab. Wegen ihm war ich hier.
    »Als Sie in dem Buchladen arbeiteten, haben Sie zahlreiche Gegenstände entwendet, ohne dafür zu bezahlen. Ist es nicht so? Und wir sprechen hier nicht von Beowulf-Lesezeichen oder Zuckerpäckchen von der Kaffeetheke. Sie haben sämtliche Bestseller der New York Times mitgehen lassen.«
    Der Anwalt der Klägerin stand auf. »Einspruch. Dafür gibt es keine Beweise.«
    Richterin Sophia Rodriguez musterte ihn über ihre Lesebrille. »Einspruch abgelehnt.«
    Jesse ließ sich Zeit. Besonnenheit entsprach nicht gerade seinem Naturell, aber das war ein großer Prozess, und er wollte sich von seiner besten Seite zeigen. Er durfte keine Fehler machen. Was gar nicht so einfach war. Priscilla Gauls Diebstahlserie hatte erst in der Nacht ein Ende gefunden, als sich die Besitzerin des Beowulf-Buchladens entschloss, zurückzuschlagen. Das tat sie, wie es Gauls Anwalt bezeichnete, in Form einer »heimtückischen, schweren Körperverletzung«. Also verklagte Gaul den Buchladen auf Schadenersatz, und Jesse sollte sie auf Anraten seines Mit-Verteidigers ins Kreuzverhör nehmen, obwohl er mit seinen siebenundzwanzig Jahren selbst noch ein Greenhorn im Gerichtssaal war.
    An den Fingern zählte er nun die entwendeten Gegenstände ab. »Eine Espressomaschine, tausend Dollar in bar und die gesammelten Werke von Jackie Collins … Bestreiten Sie, dass Sie diese Dinge in besagter Nacht in der Hand hatten?«
    Schlechte Wortwahl. Sie verzog ihr Gesicht vor Entrüstung. »Sie stellen mich mit Absicht so hin! Das weiß ich.«
    »Ja, das tue ich. Denn das ist schließlich der Grund, weswegen Sie meine Klientin verklagen.«
    Er war schlauer, als ich dachte, und überraschte mich immer wieder. Deswegen konnte er mich gleichzeitig so verzaubern und wütend machen. Den Zeugen aus dem Gleichgewicht bringen, die wahren Beweggründe ans Licht zerren – das war Jesses Absicht.
    Gaul sagte: »In dieser Nacht war ich mit der Taschenlampe in den Buchladen gekommen, um nachzusehen, ob es schon wieder einen Einbruch gegeben hatte. Und diese Taschenlampe war alles, was ich ›in der Hand‹ hielt. Sonst nichts.«
    Tatsächlich hatte sie einen ordentlichen Hamburger in der Hand gehabt, genauer: gehacktes Rinderfilet, wenn man nach dem Bericht der Gerichtsmedizin gehen wollte. Aber Jesse ließ ihre Behauptung so stehen, denn Gaul rieb ihren linken Arm, um die Geschworenen daran zu erinnern, was sie mit »nichts« meinte: Dass sie keine linke Hand mehr hatte. Sie war von Bestien angefallen worden, als sie hinter die Theke griff, um den Stecker der Espressomaschine zu ziehen. Aus diesem Grund verklagte sie Beowulf auf neun Millionen Dollar Schadenersatz.
    Jesse sagte: »Und Sie flohen aus dem Buchladen, weil …«
    »Diese Biester wollten mir die Kehle durchbeißen. Ich dachte, es ist eine wilde Meute, die durch die Stadt streunt …«
    »Und dabei Espresso trinkt?«
    Ihr Anwalt sprang auf. Sein Name war Skip Hinkel, und er trug einen Anzug, der genauso hell und kurz geschnitten war wie sein Haar. Er rief: »Einspruch!«, aber Richterin Rodriguez wies ihn an, sich wieder zu setzen. »Sparen Sie sich diese Kommentare, Mister Blackburn.«
    Jesse fuhr mit der Befragung fort: »Und nachdem Sie aus dem Laden geflohen waren, haben Sie die Polizei benachrichtigt?«
    »Nein.«
    »Haben Sie den Tierschutz benachrichtigt?«
    »Nein.«
    »Haben Sie die Besitzerin von Beowulf benachrichtigt, dass sich wilde Tiere in
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