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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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Feldhasen, die unwirklich groß wirkten, auf einem verlassenen Bauernhof stand eine verrostete Betonmischmaschine, und an einem künstlich angelegten See sah sie einen Wasserskilift. Sie nickte ein, erschrak, als die Schaffnerin die Tür aufzog, lehnte sich ans Fenster und wurde ungeduldig. Niemand erwartete sie. Das ockerfarbene Bahnhofsgebäude hatte sie größer in Erinnerung.
    »Und jetzt bin ich hier«, sagte sie.
    »Bitte, Julika, mach auf!«, rief Rico.
    »Ja«, sagte sie und blieb sitzen. Er trommelte mit der Faust.
    Mit langsamen Bewegungen ging sie zur Tür, drehte den Schlüssel, und kaum hatte sie die Tür geöffnet, schlang sie die Arme um Rico.
    »Hör auf!«, sagte er und machte sich los.
    Hinter ihm bemerkte sie seine Mutter, die in der Küche saß, mit hängenden Schultern, ihr halb zugewandt, und je länger sie hinsah, an Rico vorbei, der nervös die Hände an den Hosenbeinen rieb, desto deutlicher glaubte Julika ihre eigene Mutter da sitzen zu sehen, wie in all den Jahren, wenn ihr Vater seiner Tochter eine Predigt hielt, nachdem er sie verfolgt und beobachtet hatte. Ihre Mutter nickte bloß und schleuderte ihr ein Schweigen entgegen, das sie mehr schmerzte als jede Ohrfeige. Und obwohl ihr Vater sie geohrfeigt hatte, seit sie denken konnte, hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben: Über seine Schläge erschrecke ich nur, das Schweigen meiner Mutter misshandelt mich. Ehe Rico die Sprache wieder fand, huschte sie zurück ins Zimmer und sperrte die Tür ab. Und Rico traute sich nicht mehr zu klopfen.
    Julika legte sich aufs Bett und hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen.
    »Die spinnt«, sagte Marlen Keel. Sie musste längst los, und ihr Sohn auch. »Hast du heut Nachmittag frei?«
    »Ja«, sagte er.
    »Wieso denn?«
    »Wegen Julika.«
    Was sollte sie sagen? Ständig redete sie mit behutsamen Worten auf ihren Sohn ein – »Lass dir Zeit, Rico, wir prüfen jedes Angebot gemeinsam, lass dir Zeit!« -, sich endlich eine eigene Wohnung zu suchen, immerhin war er zweiundzwanzig Jahre alt, und er hatte einen Job. Es war eine ABM-Stelle, aber die Firma hatte ihm einen festen Arbeitsplatz in Aussicht gestellt, eine seriöse Firma, die erst kürzlich trotz der allgemeinen Flaute neue Geschäftsräume angemietet hatte. Außerdem gab es genügend bezahlbare Wohnungen, gerade in den angrenzenden Stadtteilen. Hier zogen ständig Leute weg, weil sie die Betonplatten und die mickrigen Freizeitangebote satt hatten. »Lass dir Zeit! Hast du die Anzeige gesehen? Mehrere Zweiraumwohnungen zu vermieten, dreihundertzwanzig Euro.« – »Ich zieh doch hier nicht weg.« Marlen Keel fand diese Ortsverbundenheit ihres Sohnes ebenso rätselhaft wie unheimlich. Was faszinierte einen Heranwachsenden – schon mit sieben hatte Rico seine Eltern zu Sonntagsspaziergängen durchs Viertel geradezu gezwungen – an der Monotonie von Hochhäusern und mausgrauen Hinterhöfen und der völligen Abwesenheit von Natur? Nachdem ihr Mann von heute auf morgen in den Westen gegangen war, hatte sie Rico vorgeschlagen, in die Innenstadt zu ziehen, zum Wasser, in eine Wohnung mit Blick auf den Stadthafen, was auch deswegen praktisch gewesen wäre, weil sie dann keine sieben S- Bahnstationen zur Arbeit hätte fahren müssen. Aber Rico hatte gemeint, nun sei in ihrer alten Wohnung viel mehr Platz als vorher, bei gleicher Miete, das sei doch praktisch! Sie diskutierte ein paar Mal mit ihm, dann kapitulierte sie. Und zum Dank brachte er ihr einen Strauß Tulpen mit, die ihm angeblich sein vietnamesischer Freund aus der Imbissbude geschenkt hatte.
    Mehr denn je wünschte sie, er würde endlich ausziehen und ihr mehr Raum lassen, fürs Fürsichsein, für – Besuche. Natürlich hatte er nichts dagegen, wenn sie einen Bekannten mitbrachte. Was er – und sie verstand beim besten Willen nicht, wieso – nicht wahrhaben wollte, war: Sie hatte etwas dagegen, dass er da war, wenn sie einen Bekannten mitbrachte. Und jetzt hatte er eine Bekannte mitgebracht.
    »Du musst in die Bibliothek«, sagte er. Sie kannte dieses Mädchen nicht. Rico hatte an Silvester von ihr erzählt, er hatte sogar versucht sie am Handy zu erreichen, er hinterließ seine Glückwünsche für das neue Jahr auf der Mailbox. Marlen hatte ihn ausgefragt, und er war ihr, ganz gegen seine Gewohnheit, ausgewichen, er sagte, er habe sie im »Eisenhans« kennen gelernt, ihre Eltern hätten geschäftlich in der Stadt zu tun gehabt, und das war alles, was er sagte.
    »Was ist eigentlich
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