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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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entscheiden zu können, wäre nur ein Spiel, mit dem jemand sie täuschen und in eine andere Gefangenschaft führen wollte. Wer dieser jemand war, wusste sie nicht, sie wusste nur, er lauerte ihr auf und wartete auf den richtigen Moment, vielleicht auf den Tag, an dem sie die letzte Abiturarbeit schrieb, vielleicht auf den Tag der Abschlussfeier in der Schule, vielleicht auf den Morgen danach. Vielleicht aber, schrieb sie in ihr Tagebuch, ist es schon so weit, und ich bin gar kein unabhängiger Mensch, obwohl ich es geschafft habe, der Diktatur der Augen und Ohren zu entkommen, und in Wirklichkeit gehöre ich gar nicht mir, sondern…
    »Mach auf! Mach auf!«
    Sie achtete nicht auf das Klopfen an der Tür.… folge einem Verbrecher, der mich töten und dabei lachen wird. Sie hielt beim Schreiben inne, drehte den Kopf, das Klopfen wurde schwächer, und sie hörte wieder die Stimme von Ricos Mutter. Dann schlug sie das Buch mit dem schwarzen Einband zu und legte die Hände darauf, über Kreuz. Nein, sie wollte sich nicht töten lassen, sie bildete sich nur ein verfolgt zu werden, sie war entwischt, und damit hatte niemand gerechnet. Niemand hatte ahnen können, was sie plante, sie war freundlich und eifrig gewesen, sie hatte sogar ihre Eltern an ihrem Hader teilhaben lassen, wenn sie vor diesen Matheformeln saß und nicht begriff, wie die Rechnung zu lösen war. In großartiger Perfektion hatte sie Anwesenheit simuliert, in der Schule, zu Hause, in der Gegenwart ihrer Freundinnen, denen sie Klamotten aus dem Laden ihres Vaters besorgte, Jacken aus London, Dessous aus Paris.
    Nein, sie war nicht nur hier, um von woanders weg zu sein, sie war in dieser Stadt, in diesem Haus, um anwesend zu sein wie nie zuvor. Sie, Julika de Vries, würde bald zum ersten Mal vollkommen sein – sie lächelte jetzt und betrachtete ihre Finger – und bereit sich dem hinzugeben, was geschehen würde, was immer er von ihr verlangte, er, Rico Keel, der etwas noch nicht wusste.
    Sie blickte, weil sie in der Zwischenzeit ihren Stuhl vor das Fenster gestellt hatte, über die Schulter zur Tür, an der ein blauer Overall hing. Sie lächelte wieder. Dann drehte sie sich mit einem Ruck zum Fenster, und ihr Lächeln verschwand. Sie schaute in den Innenhof mit den Skulpturen und dem wasserlosen Springbrunnen, Plattenbauten ringsum, manche gelb, manche graubraun.
    Da ist es jetzt kalt, hatte der Schaffner gesagt. Das macht mir nichts, hatte sie erwidert.
    Sie saß im Großraumwagen, niemand neben ihr. Die Sporttasche hatte sie vor den leeren Sitz gestellt, ihre Jacke und den langen schwarzen Schal darüber gelegt. Sie zog die Schuhe aus, schob die Lehne nach hinten, legte den Kopf auf die flache Hand und sah zum Fenster hinaus, bis sie in einen leichten Schlaf fiel. Später hatte sie Durst, aber der Weg ins Restaurant war ihr zu weit, und kein Wagen mit Getränken kam vorbei. Als sie im Dezember mit ihren Eltern dieselbe Strecke gefahren war, hatten sie Plätze in der ersten Klasse gehabt, und ihr Vater hatte den Schaffner dreimal losgeschickt, um Kaffee, Hörnchen und belegte Baguettes bringen zu lassen. Sie hatte nur Wasser getrunken. Daran wollte sie nicht denken, als sie jetzt hinaussah, wo der Himmel heller wurde und das Land flach und weit. Sechs Stunden dauerte die Fahrt, sie musste ein zweites Mal ihr Ticket vorzeigen, eine Zeit lang schrie ein Baby, eine Frau vor ihr verbreitete einen Duft nach Kölnischwasser, und als zwei Männer vom Bundesgrenzschutz kamen, hielt sie die Luft an. Sie warfen ihr einen Blick zu und gingen weiter. Ihr Herz schlug heftig, und sie hatte einen trockenen Mund. Aus einem Grund, den sie sich nicht erklären konnte, wagte sie nicht aufzustehen und im Restaurant etwas zu trinken, obwohl sie in dem überheizten Waggon schwitzte. Kurz vor der Ankunft am Umsteigebahnhof zog sie die Jacke an, wickelte den Schal um den Hals, nahm die Tasche und stellte sich an die Tür. Ein älterer Mann sah sie an, sie wich seinem Blick aus, und als er so dicht hinter ihr auf das Anhalten des Zuges wartete, dass sie seinen Atem roch, ging sie ins nächste Abteil. Auf dem Bahnsteig wartete sie in einem metallenen Schalensitz auf den Interregio, der eine halbe Stunde später als geplant abfuhr. Diesmal setzte sie sich in ein Abteil und wieder blieb sie für sich. Birkenwälder, Schrebergartenkolonien zogen an ihr vorüber, alles kam ihr unverändert vor, wie im Dezember. An einigen Stellen lag grauer Schnee, über einen Hang rannten
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