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Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition)
Autoren: Steven Uhly
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ganz langsam versteht er. Die Wucht der Erkenntnisse, die gleichzeitig in seinem Gehirn entstehen, wird nur überlagert von dem heiseren, leisen Schreien des Wesens, das da vor ihm im Müll liegt. Vorsichtig greift er zu und nimmt das Baby in den Arm. »Du hast bestimmt Hunger, nicht wahr?«, sagt er mit einem Zittern in der Stimme. Die Tücher, in die das Kind gewickelt ist, sind feucht vom Müll und stinken, Hans nimmt es wahr, aber das ist jetzt nicht wichtig. Er tastet nach seinem Portemonnaie, zum Glück hat er es dabei. Ohne zu überlegen, geht er die Straße entlang bis zum Supermarkt. Als er dort ankommt, erinnert er sich plötzlich an die Wirklichkeit. Er, Hans, ein völlig verwahrloster alter Mann, kann unmöglich mit einem so kleinen Baby den Supermarkt betreten. Er spricht eine Frau an, die gerade genau das tun will. Er sagt: »Entschuldigen Sie, könnten Sie mir etwas aus dem Geschäft mitbringen?«
    Die Frau schaut ihn kurz an und geht weiter. »Ich kann es ihr nicht verübeln«, sagt Hans zu dem Baby, »sieh nur, wie ich aussehe, was soll sie denken?«
    Das Baby schreit weiter, leise, heiser. Jemand muss helfen, denkt Hans. Als Nächstes kommt ein Jugendlicher vorbei, er ist wohl auf dem Heimweg. Hans sagt: »Entschuldige, ich habe Hausverbot im Supermarkt, aber mein Enkel hat Hunger, ich gebe dir Geld und du kaufst mir eine Babymilch, okay?«
    Der Jugendliche ist ein schlaksiger Kerl, einen Kopf größer als Hans, vielleicht vierzehn Jahre alt, Lederjacke, eine Jeans, die tief im Schritt hängt, Schuhe ohne Schnürsenkel, aber mit Ösen, um die Schulter eine Ledertasche an langer Schlaufe. Keine Körperspannung. Er betrachtet Hans mit einer Mischung aus Scheu und Verachtung. Das Baby schreit. Der Jugendliche sagt: »Okay, ich mach’s.«
    Hans gibt ihm sein Portemonnaie, der Jugendliche greift es mit spitzen Fingern, die Glastüren öffnen sich, als er sich ihnen nähert. Dann ist er drinnen. Erst jetzt fällt Hans auf, dass er ihm gar nicht gesagt hat, was genau er kaufen soll. Durch die Glasfront beobachtet er den Jugendlichen, wie er eine Verkäuferin anspricht und ihr folgt. Sie drückt ihm eine Schachtel in die Hand, er nimmt sie und geht zur Kasse. Die Verkäuferin schaut ihm nach und schüttelt den Kopf, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit widmet. Hans steht da und wiegt das Baby. Es hat ein ganz kleines Gesicht, es kann kaum geradeaus schauen, aber es starrt ihn an und reißt seinen Mund auf und schreit. »Mach dir keine Sorgen«, flüstert Hans, »es wird alles gut.« Er spürt, wie die Trauer ihn übermannt, seine Beine werden schwach, sein Magen wird flau, Tränen quellen aus seinen Augen hervor. Während er weint, wird ihm bewusst, dass er das seit vielen Jahren nicht mehr getan hat.
    Als der Jugendliche endlich wieder herauskommt, reißt Hans sich zusammen, wischt sich mit dem Ärmel seines Mantels die Tränen ab. Der Jugendliche sagt: »Ich hab sie nach Milch für ein ganz kleines Baby gefragt, war doch richtig, oder?«
    Hans lächelt dankbar und sagt: »Ja, das hast du gut gemacht, ich danke dir.«
    Der Jugendliche überreicht ihm die Schachtel und das Portemonnaie, Hans nimmt es irgendwie entgegen, aber die Schachtel fällt ihm auf den Boden. Der Jugendliche hebt sie auf. »Wohnen Sie hier in der Nähe?«
    Hans nickt, er will ihn jetzt loswerden, aber mit dem Baby auf dem Arm kann er die Schachtel nicht tragen. Gemeinsam gehen sie die Straße entlang. Der Jugendliche zögert, dann sagt er: »Ich glaub, die Verkäuferin hat gedacht, ich kauf das für mein Kind. War ein bisschen peinlich.«
    Hans schaut ihn von der Seite an. »Wie heißt du, junger Mann?«, fragt er ihn.
    »Arthur«, sagt Arthur. »Ist auch ein bisschen peinlich.«
    Hans hat es eilig, das Baby auf seinem Arm wirkt erschöpft, wer weiß, seit wann es nichts mehr zu essen bekommen hat. Er sagt flüchtig: »Aber das ist doch ein schöner Name. Erinnert an die Ritter der Tafelrunde.«
    »Ja, eben«, sagt Arthur und verzieht das Gesicht. »Das ist so was von nicht angesagt!«
    Hans versteht. Er sagt: »Mach dir nichts draus. Es gibt Schlimmeres. Schau mich an.« Arthur wirft ihm einen erstaunten Blick zu. Hans grinst ihn kurz an und ist selbst erstaunt über seine Antwort. Jetzt sind sie an Hans’ Haus angelangt. Hans verabschiedet sich, er sagt: »Du hast mir mehr geholfen, als du ahnst. Mach’s gut, König Arthur.« Er lässt Arthur stehen und betritt das Haus, die Schachtel liegt auf dem Baby. Im Fahrstuhl kommen die
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