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Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition)
Autoren: Steven Uhly
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knapp wie möglich, er wirft ihm einen jener missbilligenden Blicke zu, die ihn immer noch nicht entlassen aus den Verpflichtungen der Zivilisation. Hans duckt sich weg hinter seinem Rauschebart und seinen vielen Mülltüten, nicht einmal grüßen mag er ihn noch. Dann ist er vorbei und atmet auf und geht zum Fahrstuhl und hofft, wenigstens dort niemandem zu begegnen. Immer schwerer fällt es ihm, in die Welt da draußen zu gehen. Er möchte nicht mit ansehen, wie andere Leute ihren Pflichten nachgehen, er möchte nicht sehen, welche Dinge sie besitzen, welche Autos sie fahren, die Handys, die sie haben, die guten Kleider, die sie tragen. Vor allem aber erträgt er es nicht, ihnen in die Augen zu sehen. In ihren Augen sieht er nur sich selbst, wie die Leute ihn sehen müssen, und was er sieht, erträgt er kaum. Und er sieht noch etwas: Er sieht den Sinn des Lebens, den die Leute mit sich herumtragen, die Zielstrebigkeit, die sie in die Lage versetzt, ihren Weg zu gehen, die ihnen aus den Blicken herausspringt, diesen Blicken, mit denen sie alles anschauen, alles ergreifen und festhalten, was es gibt. Hans hat längst aufgehört, die Welt zu ergreifen, sie fliegt an ihm vorbei wie ein Traum, der sich Tag für Tag wiederholt. Er unterscheidet die Menschen nicht mehr, weil alle Menschen Fremde sind.
    Der Fahrstuhl kommt und ist leer. Zum Glück, denkt Hans und betritt ihn, er drückt auf E und fährt abwärts. Die Müllsäcke stinken. Wenigstens merkt so keiner, dass auch ich stinke, denkt Hans. Aber es steigt niemand hinzu, Hans kommt unten an, er schleppt die Müllsäcke durch den Hausflur, vorbei an den langen Reihen der Briefkästen, er schaut manchmal wochenlang nicht in seinen, weil höchstens Reklame darin steckt. Hans hat sich vorgenommen, nicht mehr auf Post zu warten, aber auch jetzt wandert sein Blick zur fünften Reihe von unten, dritter Kasten von rechts, es ist wie ein Zwang, seine Augen erfassen das kleine Sichtfenster im unteren Teil des Kastens. Es ist schwarz, nichts Weißes schimmert dort, Hans geht weiter und tut, als wäre nichts gewesen, und weiß längst, dass das nicht stimmt und betrügt sich damit, dass er sich selbst durchschaut, und weiß auch das und hält sich damit über Wasser und will jetzt nicht daran denken, dass in seinem Kopf seit vielen Jahren ein Stellungskrieg tobt, in dem alle Angriffe und Gegenangriffe zu Ritualen der Bewegungslosigkeit geworden sind. Er tritt aus dem Gebäude. Auch hier ist niemand, es ist Mittagszeit, die Kinder sitzen zu Hause und essen oder sind noch in der Schule. Die Mütter sind entweder bei der Arbeit oder bewirten ihre Kinder. Die Männer sind nicht da. Auf dem vorgelagerten Bürgersteig gehen Passanten vorbei, die ihn nicht beachten. Die Mülltonnen stehen direkt neben dem Haus, es sind sechs große, schwarze Mülltonnen auf Rädern, die ihren eigenen kleinen Hof bilden. Ihre Deckel müssen mühsam zurückgeschoben werden, Hans kennt das von früher, als er jünger war. Da waren diese Mülltonnen grau und aus Metall. Jetzt sind sie aus Plastik. Er schiebt den Deckel zurück und hievt zwei Müllsäcke hinein. Sein Rücken zwickt ein wenig bei der Anstrengung, aber er achtet nicht darauf. Es ist nur ein kleines Zwicken, das irgendwann begonnen hat und nicht mehr aufhört. Hans nimmt es als Folge des Alterns hin.
    Die Tonne ist ziemlich voll, obwohl sie erst vor drei Tagen geleert wurde. Was die Leute alles wegschmeißen, denkt Hans, als er eine lebensgroße Babypuppe sieht, die auf dem Müll liegt. Sie ist eingewickelt wie ein echtes Baby, hat eine Mütze auf wie ein echtes Baby, Hans schüttelt den Kopf. Wie die Leute ihre Kinder verwöhnen, und dann ist es ihnen auch nicht recht und so eine Puppe wird einfach entsorgt. Man hätte sie auch spenden können. Aber irgendwie kreuzt sich dieser Gedanke mit einem uralten Bild in Hans’ Gedächtnis, und auf diesem Bild sieht Hans seine Tochter Hanna, als sie ein Baby war. Wie lange ist das schon her?, fragt er sich flüchtig. »Ewigkeiten«, murmelt er, und dann hievt er die beiden anderen Müllsäcke hoch. Als er sie auf die Puppe legen will, schlägt sie die Augen auf, schaut ihn an und beginnt leise und heiser zu schreien, wie ein Kind, das erst einige Wochen alt ist. Hans starrt die Puppe an, die jetzt ihre Arme bewegt. Die beiden Müllsäcke gleiten Hans durch die Finger, sie fallen auf den Rand der Tonne und von dort auf den Boden, Hans achtet nicht darauf. Er ist damit beschäftigt zu verstehen. Und
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