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Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Titel: Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Autoren: Stefan König
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ihm Schmerz, Leid und Tod
emotional wirklich nahegekommen. An den Unfallorten hatte er das in Blaulicht
getauchte Geschehen stets als Titelfoto der Zeitungen gesehen – real nur als
gedrucktes Bild.
    Er fühlte Panik in sich aufsteigen. Die Fotos,
die er gemacht hatte, bekamen für Sekunden ein Eigenleben, und in seinem Kopf
wurden sie zu kleinen Horrorfilmen mit einem Soundtrack aus Schmerzensschreien
und Martinshörnern. Er fuhr weiter, fuhr vorbei an der Stelle, wo keine
Leitplanke den Absturz hatte verhindern können, fuhr vorbei an dem schwachen
Lichtschein, der aus der Tiefe heraufleuchtete, fuhr nach Innsbruck.
    *
    Nein, nach Innsbruck fuhr er nicht! Er hatte
es tun wollen, das ja. Aber er war Fotograf. Und in die Bilder des Entsetzens
mischten sich Selbstbildnisse von ihm als Fotograf: wie er in jedem Chaos
stand, die Kamera vor dem Gesicht, ruhig, sicher, eine Autorität, um die selbst
Rettungssanitäter einen Bogen machten.
    Er lenkte den Wagen an den Straßenrand, sodass er
mit den rechten Rädern auf dem schmalen Bankett zum Stehen kam, schaltete die
Warnblinkanlage ein, schnappte sich die Kamera vom Beifahrersitz und ging
hinaus in die kalte Nacht.
    Er atmete die eisige Luft tief ein und ganz
langsam aus.
    Ich bin Fotograf, dachte er. Ich mache meinen
Job. Mache nur meinen Job.
    Seine Hände zitterten noch, aber er wusste, dass
er sie zum Fotografieren ruhig bekommen würde. Es war immer so gewesen, es
würde heute so sein. Egal, was geschehen war.
    Er musste mehr als dreihundert Meter zurückgehen.
Die Warnblinkanlage seines Wagens warf ein pulsierendes Rotlicht auf den
Asphalt. Die Straße war stellenweise glatt, die Nässe war gefroren, und er
musste im grasigen und kiesigen Bankett laufen, damit es ihm nicht die Beine
wegzog.
    Nach ein paar Minuten stand er an der
Absturzstelle des Wagens. Er sah Reifenspuren, die das Bankett tief durchpflügt
hatten. Und er sah den Wagen, oder besser: was davon übrig war, etwa fünfzehn
Meter tiefer verkeilt zwischen Bäumen. Das Rücklicht des Wagens brannte, und im
Schein dieses Lichts konnte er sehen, dass irgendwas an dem Fahrzeug qualmte
oder dampfte.
    Wenigstens brennt es nicht, dachte Tinhofer.
    Aber auch so war sein Vorhaben alles andere als
einfach. Von dort, wo er stand, konnte er nicht einmal vom Fahrzeugwrack ein
vernünftiges Foto schießen. Nicht jetzt bei Nacht. Und was hätte es ihm
genutzt. Welche Zeitung will schon einfach nur einen Blechhaufen abbilden – und
das, wo doch drinnen im Wrack ein Mann von zumindest lokaler Prominenz lag.
    Ich muss da hinunter, dachte er.
    Das Gelände brach steil ab. Der Boden machte
einen beinharten Eindruck. Das lange Gras war feucht, und es würde rutschig
sein. Ausgleiten würde er nicht dürfen. Denn Bäume wie die, wo sich das Auto
daran verfangen hatte, gab es nicht viele hier. Lediglich dünnes Gesträuch
wuchs an diesem Hang, und das Geäst bot den einzigen Halt beim
Nach-unten-Steigen.
    Tinhofer zögerte. Dann aber tat er den ersten
Schritt.
    Die Kamera hatte er sich umgehängt, nun ertastete
er mit den Händen die biegsamen Zweige der Sträucher. Er hatte Glück: Das
Gezweig war zäh, er konnte sich daran halten und ein Stück den Hang
hinabrutschen. Und es hatte keine Dornen!
    Nichtsdestotrotz war seine Vorgehensweise mühsam,
anstrengend und gefährlich. Trotz der Kälte kam er ins Schwitzen. Und er wusste
zugleich, dass es eine verdammt schwierige Angelegenheit werden würde, dort
wieder hinaufzukommen.
    Doch so weit war es noch nicht. Er musste noch
ein paar Meter hinunter, ehe er sehen konnte, was mit den Insassen des
Fahrzeugs geschehen war. Nicht etwa, dass er noch Zweifel gehabt hätte. Aber er
dachte schon wieder in Bildern. In möglichen Bildern. Und so ein Unfall konnte
schließlich so oder so aussehen. Er hatte schon Verunglückte fotografiert, die
aussahen, als wären sie sanft entschlafen …
    Als er beim verklemmten Wrack ankam, sich daran
festhielt und langsam auf die aufgeklappte Beifahrertür zurutschte, sah er
seine düsteren imaginären Bilder bestätigt. Es war schlimm. Nicht schlimmer als
erwartet. Aber auch kaum weniger schlimm.
    Er klammerte sich an die Beifahrertür, prüfte, ob
der Wagen sich nicht etwa noch lösen konnte von den ihn haltenden Bäumen,
merkte, dass da kaum Gefahr bestand. Er lehnte seine rechte Hüfte gegen die
Tür, nahm die Kamera von der Schulter, entfernte die Objektivkappe und …
    Droben hörte er ein Auto vorbeifahren, langsam,
aber gleichmäßig, und er
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