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Glenraven

Glenraven

Titel: Glenraven
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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sie.
    Sie bemerkte, wie Jayjay in dem Buch herumblätterte, redete und auf Sehenswürdigkeiten hinwies, die sie unbedingt besuchen wollte. Sophie hatte zwar nicht zugehört, aber offensichtlich geantwortet. Sie ging durchs Leben, ohne irgend etwas zu sehen, zu hören oder zu wollen - nein, das war auch nicht die ganze Wahrheit. Seit geraumer Zeit schon wollte sie einfach nur sterben. Sie hatte es wirklich gewollt. Aber seit kurzem war ihr selbst das egal. Nichts war noch von Bedeutung. Sie atmete einfach weiter, obwohl sie sich die ganze Zeit über wie eine Fremde in ihrem eigenen Körper vorkam. Eines Tages würde der rechtmäßige Eigentümer zurückkehren und sich wieder um alles kümmern.
    »Im gesamten Land gibt es kein einziges Auto?« murmelte Jayjay plötzlich. Die Bemerkung erregte Sophies Aufmerksamkeit. Sie betrachtete den Absatz, auf den Jay deutete, und las, daß man in Glenraven Pferde mieten konnte. Innerhalb der Städte und Dörfer gab es auch vereinzelt Kutschen, aber die normale Art zu reisen war zu Fuß.
    Jayjay lehnte sich über den Tisch und grinste. »Laß uns Fahrräder nehmen.«
    »Fahrräder… « Sophie war wieder bei der Sache und fähig, ihre Zweifel und Vorbehalte zu äußern. Sie spielte mit ihrer Papierserviette, die sich langsam in kleine Schnipsel aufzulösen begann. »Das war ein Witz, oder? Dieser Ort liegt in den italienischen Alpen. Es gibt dort zwar Straßen… jedenfalls so etwas Ähnliches… « Sie stoppte, ohne zu überzeugen.
    Eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte, diskutiere nicht, sei nicht ablehnend, stell keine Fragen. Wenn du das tust, dann wirst du deine Meinung ändern, und das darf nicht sein. Komm… das ist alles. Dann fügte die Stimme noch hinzu, daß sie es weder ignorieren noch sich davor drücken konnte. Sie sagte, wenn du das jetzt nicht durchziehst, dann wirst du es niemals wissen.
    Was wissen? dachte sie - aber das war alles. Wenn sie nicht ging, dann würde sie es niemals wissen .
    Nachdem Sophie Jay zu Hause abgesetzt hatte, bemerkte sie, daß sie gar nicht darüber gesprochen hatten, warum Jayjay so plötzlich auf diese Reise gehen wollte. Sie nahm an, daß es irgendwelche Schwierigkeiten mit Steven gab… oder vielleicht auch nicht. Es ärgerte sie, nicht danach gefragt zu haben.
    »Hey, meine Süße.« Mitch kam ihr an der Tür mit einem aufmunternden Lächeln entgegen. »Ist alles okay mit Jayjay? Du warst eine ganze Weile weg. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
    »Jay ist in Ordnung.« Sophie studierte das Gesicht ihres Mannes, als gehörte es einem Fremden. Er hatte einen Weg aus der öden, leeren Welt des Schmerzes gefunden, in der sie noch immer lebte. Er versuchte seiner Frau zu helfen, damit sie mit sich selbst ins reine kam, aber seine Akzeptanz des Geschehenen hatte ihn nur noch weiter von ihr entfernt. Er schien Karens Tod einfach so hinzunehmen. Aber er hatte auch nicht gefühlt, wie Karen in seinem Inneren heranwuchs, ihre ersten wunderbaren Bewegungen. Er hatte sie nicht neun Monate mit sich herumgetragen, hatte sie nicht auf der abgedunkelten Entbindungsstation in den Armen gewiegt, ihr nicht die Brust gegeben und den sanften, saugenden Geräuschen gelauscht, wenn sie trank. Er hatte nicht ihre perfekte, seidenweiche Haut gespürt und ihre kleinen Finger, die sich so energisch an das Leben klammerten.
    Er hatte Karen geliebt; Sophie wußte das. Sie hatte es niemals bezweifelt. Aber irgendwo - versteckt in ihrem Innersten - bewahrte sie den Glauben, daß er seine Tochter nicht so intensiv geliebt hatte wie sie.
    »Wenn du nach Washington zu deinem Kongreß fährst«, sagte sie, »werde ich mit Jay einen kurzen Urlaub machen.«
    Für einen Augenblick schlich sich ein unglücklicher Schatten über Mitchs Gesicht, der jedoch schnell einem sorgfältig neutralen Ausdruck wich. »Ich dachte, du würdest mit mir kommen.«
    »Es würde mir keinen Spaß machen. Ich habe mich von dir überreden lassen. Du weißt, wie aufregend es ist, einer ganzen Horde von Anwälten zuzuhören, die sich über nichts anderes unterhalten als ihre letzten Fälle oder neue Möglichkeiten, den Klienten das Geld aus der Tasche zu ziehen.«
    »Ich hatte nicht vor, die ganze Zeit auf dem Kongreß zu verbringen. Sophie, du und ich brauchen ein wenig Zeit für uns allein. Wir beide zusammen. Wir brauchen keine getrennten Ferien, Liebling. Wir brauchen… «
    »… irgend etwas«, beendete sie an seiner Stelle. »Aber ich brauche genau das .«
    Er seufzte und nickte.
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