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Gier

Gier

Titel: Gier
Autoren: Arne Dahl
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Menschenmenge hin und her. Er beobachtet.
    Die Mächtigen der Welt versammeln sich in dem hässlichen Betonklotz und werden versuchen, ein System zu bandagieren, das sich erneut selbst in den Fuß geschossen hat und wie ein fahrlässiges, psychopathisch veranlagtes Kind verbunden werden muss – ein System, von dem behauptet wird, dass es absolut notwendig für den Fortbestand der Menschheit sei. Aber dieses Mal ist nicht nur der Fuß verletzt, ein normaler staatlicher oder supranationaler Druckverband reicht nicht aus. Diesmal hat der Schuss obendrein das Bein getroffen, und ob die große Oberschenkelarterie unversehrt geblieben ist, ist noch unklar.
    Eigentlich müssten die da drinnen die Existenzberechtigung dieses Wirtschaftssystems diskutieren. Aber sie diskutieren lediglich, wie viele Billionen aus Hilfs-, Ausbildungs-, Pflege-, Kultur- und Umweltfonds überführt und geradewegs in eine Bankenwelt gepumpt werden können, die auf diese Weise dafür belohnt wird, dass sie schlimmsten Raubbau betrieben hat. Nicht einmal die Bonifikationen der Chefs werden eingefroren.
    Der Beobachter spürt, dass er für einen kurzen Moment seinen klaren neutralen Blick verliert. Wir leben wahrhaftig in einer merkwürdigen Zeit, denkt er jetzt. Genau in dem Augenblick, in dem die Weltwirtschaft kollabiert, kommt im größten Wirtschaftsimperium ein Politiker an die Macht, der das, was er sieht, keineswegs gutheißt. Der tatsächlich zu Veränderungen bereit zu sein scheint. Dem es gelingen könnte, eine Art Ideal mit dem Inferno der Realpolitik zu vereinen. Der dem Rest der Welt eine, wenn auch paradoxe, Hoffnung vermittelt.
    Aber ist er wirklich der richtige Mann, um die Apokalypse zu verhindern? Ist er nicht nur eine Galionsfigur? Ein letztes machtloses Symbol unserer Träume. Wirkt er als mächtigster Mann der Welt nicht erstaunlich machtlos?
    Der Beobachter steht auf der Straßenseite, wo sich die Menschenmenge nicht ganz so dicht drängt, ziemlich nahe am Straßenrand. Verschiedene Instanzen der »Operation Glencoe«, kurz gesagt viele Bullen, säumen die Straße, während eine weitere Limousine vorbeirauscht. Die türkische Flagge weht im Aprilwind. Premierminister Recep Tayyip Erdoğan. Der Beobachter mustert die Menschenmenge, während der Wagen passiert. Er nimmt wahr, wie sich der kollektive Zorn für einen Augenblick verstärkt. Wie Fäuste in die Luft gereckt werden, die aufgebrachten Rufe einen anderen, verzweifelteren Klang annehmen. Erdoğan hält nicht an. Bislang hat keiner angehalten.
    Als die Limousine das ExCeL Exhibition Centre erreicht, sieht der Beobachter einen Schatten hinaus- und auf die geöffneten Wagentüren zutreten. Allem Anschein nach handelt es sich um Premierminister Gordon Brown. Der Gastgeber des G20-Treffens. Gestern Abend hat er zu einem Dinner in Downing Street Number 10 geladen. Brown ist ein untadeliger Gastgeber. Und vielleicht sogar ein Mann, dem es mit diesem Treffen ernst ist.
    Eine weitere Limousine fährt vorbei. Diesmal weht die französische Flagge im Wind. Auch Präsident Nicolas Sarkozy hält nicht an, um die Menschen zu grüßen, deren Aggressivität erneut explodiert und in deren Gesichtern sich derartige Verzweiflung widerspiegelt.
    Würde er es dennoch tun? Würde »BO« wirklich so dumm sein?
    Wäre das tatsächlich Barack Obamas Stil?
    Der Schwitzende steht unten an der Themse. Er schaut in das braune Wasser hinab und ahnt, dass er der Einzige in ganz London ist, der sich nach einem erfrischenden Bad sehnt. Er sieht einen ganz anderen Fluss vor sich, wunderbar kühl und erquickend. Damals war er das noch. Er sieht seine Freundin vor sich. Sie steigen gemeinsam hinunter in den Fluss, nackt. Das waren andere Zeiten.
    Er nimmt sein Handy aus der Hosentasche. Betrachtet es. Das letzte Lebenszeichen. Dann lässt er es aus der Hand gleiten. Es versinkt rasch im braunen Wasser.
    Ein letzter Augenblick des Innehaltens, denkt er und macht sich auf den Weg.
    Er schiebt sich durch die Menschenmenge. Er weiß, dass es seine letzte und einzige Chance ist. Er wird ihn nur hier erreichen können. Nur hier.
    Er ist immer noch weit von der Straße entfernt, steht tief im Inneren der Menge. Sie wogt. In ihr wogt der Wille nach Veränderung. Der Wille, die Welt mit klaren Augen zu sehen. Zu sehen, was tatsächlich mit ihr geschieht.
    Es ist so eng, dass ihm heiß
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