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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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aushebeln können. Entweder handelte Milbrandt mit ungeheurer krimineller Energie und einem beeindruckenden Talent als Fälscher, oder er hatte Komplizen in der Bank – und möglicherweise außerhalb. Denn um, wie vermutet wird, Geld auf unbekannte Konten zu transferieren, dürfte Milbrandt Helfershelfer benötigt haben.
    Vielleicht werden die Inspektoren auch klären, welche Rolle Johann Alberts’ Sohn Thomas in der Affäre spielt. Der einst designierte Nachfolger des Gesellschafters hatte der Bank bereits vor Jahren nach einem Streit den Rücken gekehrt und war vollständig von der Bildfläche verschwunden. An den Gesprächen mit der Aufsicht soll er aber teilgenommen haben, ohne dass er in der Bank irgendeine Position bekleidet hätte. Offiziell heißt es, als mutmaßlicher Erbe habe er ein Mitspracherecht über die Zukunft der Bank. Ob es noch etwas zu erben geben wird, ist derzeit freilich mehr als fraglich.
    Thomas Alberts’ Auftauchen zu diesem heiklen Zeitpunkt erscheint umso merkwürdiger, wenn man bedenkt, dass Bernhard Milbrandt in der familiären Rangfolge gewissermaßen seinen Platz eingenommen hatte. Das Verhältnis der beiden Männer ist bislang unklar. Und zuletzt war aus ungenannter Quelle zu hören, dass Alberts den Aufenthaltsort Milbrandts kenne.
    Falls dies zutrifft und der verlorene Sohn das Familienerbe retten will, so sollte er sich damit beeilen, denn auf die Bank kommen ungemütliche Zeiten zu. Der drohende Konkurs ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Nach einer ersten Prüfung der Bilanzen ist die Bankaufsicht bereits auf zahlreiche Ungereimtheiten in der Buchführung gestoßen. Falls es zu Anklagen und in deren Gefolge zu Straf- und Entschädigungszahlungen kommt, dürften nicht nur die Tage der Bank gezählt, sondern Johann Alberts’ gesamtes Lebenswerk zerstört sein: Sowohl seine humanitären Stiftungen als auch die einzigartige Kunstsammlung dürften dann in die Hände des Insolvenzverwalters fallen.

THOMAS

1
    A m Automaten der Bank Austria nahe des Schottentors hob Thomas Alberts 200 Euro Bargeld ab und hatte dabei das eigentümliche Gefühl, als würde sich an seinen Einkommensverhältnissen entweder in Kürze etwas ändern oder als sei diese Veränderung, von ihm unbemerkt, bereits eingetreten. Er war kein Kunde dieser Bank, also musste er es fürs Erste bei dem Gefühl bewenden lassen. Sein Telefon klingelte. Es war 12 Uhr.
    Frau Sudek meldete sich wöchentlich bei ihm, immer dienstags zur selben Zeit, er hätte seine Uhr danach stellen können. Anders als die meisten seiner Klienten arbeitete sie nicht selbst in einer leitenden Position. Mit seinen übrigen Klienten teilte sie jedoch die Überzeugung, seine Telefonberatung eigentlich nur ausnahmsweise in Anspruch nehmen zu müssen, da Menschen ihres Lebensstandards allenfalls solche Probleme zu haben pflegten, mit denen sie selbst fertigwurden. Als »Ratgeber«, wie er sich in seinen Annoncen schlicht nannte, wusste er um die Vermessenheit dieses Selbstkonzepts; seine gesamte Geschäftsstrategie fußte darauf. Und Frau Sudek war in ihrer allzu durchschaubaren Selbstgewissheit eine musterhafte Vertreterin jenes Menschentyps, der es als nicht standesgemäß empfindet, seinen Problemen ins Auge zu blicken, und sie deswegen lieber telefonisch erörtert. Er führte sie unter »selbstunsicher« und »histrionisch«; jede Woche berichtete sie von einem neuen Eheskandal. Eine Geschichte wie diese war jedoch selbst für ihre Verhältnisse unerhört.
    »Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Diese Kälte. Diese Gleichgültigkeit«, sagte sie. »Seit zwei Jahren führe ich praktisch Selbstgespräche.« Er drückte den Stöpsel seines Headsets etwas tiefer ins Ohr, vergewisserte sich, dass sein Labrador Sol Moscot an seiner Seite lief, und nahm die Rolltreppe an der U-Bahn-Haltestelle Schottentor nach unten, um den Innenstadtring zu unterqueren.
    Augenblicklich bereute er es. Das Gewimmel der Menschen, das Drängeln der Bettler, die Blicke der Zeitungsverkäufer lenkten ihn ab. Eine Roma-Frau, vielleicht dreißig, mit deutlich vorgealterten Gesichtszügen, ein rotznasiges Mädchen hinter sich herziehend, verstellte ihm stumpfen Blicks den Weg und hielt die Hand auf. Er blieb stehen, suchte nach einem Weg an ihr vorbei, spürte Hitze auf seinen Wangen. Auf sein Telefon deutend versuchte er, an ihr vorbeizugehen. Als sie die Hand erneut und mit erhöhtem Nachdruck nach ihm streckte, wich er zurück; Sol Moscot knurrte. Erst da
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