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Gib den Jungs zwei Küsse: Die letzten Wünsche einer Mutter

Gib den Jungs zwei Küsse: Die letzten Wünsche einer Mutter

Titel: Gib den Jungs zwei Küsse: Die letzten Wünsche einer Mutter
Autoren: St John Greene
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den Rücken jagten, als man bei Reef im Alter von achtzehn Monaten die niederschmetternde Diagnose Krebs gestellt hatte, ist mir gut in Erinnerung geblieben. Mir blieb das Herz stehen, als hätte man mir einen Eimer voll Eis über den Brustkorb gekippt, und meine Lungen zogen sich zusammen. Und als ich nach Luft zu schnappen versuchte, folgten weitere niederschmetternde Nachrichten. Die Ärzte machten uns darauf aufmerksam, dass unser kleiner Junge, wenn er überlebte, behindert wäre. »Es tut uns sehr leid, aber Reef wird womöglich nie wieder laufen können.«
    Wenn ich jetzt daran dachte, kam es mir vor, als würde ich mich an das Drehbuch für einen Film oder eine Geschichte aus dem Leben von jemand anderem erinnern. Es war wirklich unglaublich, dass dieses Kind, das wir jedes Mal, wenn es eine Bluttransfusion benötigte oder wieder zur Chemotherapie musste, mit Tränen in den Augen an uns drückten, derselbe kleine arglose Junge war, der dort am Strand entlangrannte. Er war unser Wunder.
    Ich lächelte Kate an. Ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. So entspannt, wie sie mit mir am Ufer lag, sah sie überraschend jung aus. Die beiden Linien, die sich tief zwischen ihren Augenbrauen eingegraben hatten und an deren Anblick ich mich gewöhnt hatte, waren wie weggeblasen. Sie sah wieder aus wie ein Mädchen, wie die sorglose Kate, die ich gekannt hatte, bevor unsere Welt von Angst und Kummer und der schmerzhaften und hilflosen Sorge um ein krankes Kind beherrscht wurde.
    »Sieh nur, wie Reef rennt!«, meinte Kate kichernd. »Er hat es geschafft!« Selbst ihre Stimme klang jünger und freier. »Wir haben es geschafft!« Ihre Augen blitzten, wie sie es auch taten, wenn wir in den Ferien Scuba-tauchen waren. Da freute ich mich jedes Mal auf den Moment, wenn Kate ihre Atemmaske abnahm, denn ihr Gesicht leuchtete wie ein Regenbogen, als hätte sie die glitzernden Schuppen und Leuchtstreifen der tropischen Fische gestohlen. Genauso sah sie auch an diesem Tag aus, als sie voller Begeisterung Reef und Finn dabei beobachtete, wie sie Fangen spielten.
    »Es ist unglaublich, Singe. Was haben wir für ein Glück.« Ich nickte und grinste. Das war wieder meine alte Kate. Glück war womöglich nicht das Wort, das andere verwendet hätten, aber es war das Wort, das Kate an diesem Tag wählte, und das ist einer der Gründe, weshalb ich sie so sehr liebte. Andere Leute wären verbittert gewesen, weil das Schicksal ungerecht zu ihnen war, aber nicht Kate. Sie nahm das Leben mit offenen Armen, wie es kam, und versuchte immer das Positive zu sehen.
    »Du kannst mich nicht fangen, du kannst mich nicht fangen!«, hörte ich Finn frotzeln. Meine Augen wanderten von Reef zu seinem kleinen Bruder. Für einen Zweijährigen war Finn ein bemerkenswerter kleiner Läufer und eine echte Herausforderung für Reef. Alle sagten, Reef sei der Nachdenkliche, wie Kate, und ich konnte dem nur zustimmen, aber Finn war meine Entsprechung im Kleinformat, dreist, sportbegeistert und ausgelassen. Auch er war unser Wunder. Ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich erfuhr, dass bei Kate vorzeitige Wehen eingesetzt hatten, und meine Brust zog sich zusammen wie zuvor, als ich in der Nacht von Finns Geburt ans Telefon gegangen war. Die Entdeckung der Geschwulst in Reefs Unterleib hatte für die schwangere Kate enormen Stress bedeutet. Wir warteten noch auf die Testergebnisse, die uns Aufschluss über die Art der Geschwulst geben sollten, da setzten bei ihr vorzeitig die Wehen ein. Kate war gerade mal im siebten Schwangerschaftsmonat – viel zu früh für die Geburt.
    Beim Anblick von Finn, der am Strand herumtollte, dankte ich Gott dafür, dass der Wahnsinn dieser Krankenhaustage vorbei war. Das Leben beider Jungs hatte am seidenen Faden gehangen. Beim einen, weil er im Intensivpflege-Inkubator lag, beim anderen, weil sein Becken von einer Tumorgeschwulst befallen war. Wie standen ihre Chancen? Welchen Zweck hatte es, darüber nachzudenken? Es war verrückt. Obwohl es nur ein paar Jahre zurücklag, schien inzwischen eine Ewigkeit vergangen zu sein.
    Ich atmete aus und blies die Erinnerung an Angst und Leid hinaus in die Seeluft. Die Jungs feuerten sich an und sprangen sorglos herum, und ich konnte sie nur bewundern. Freunde gaben uns den Spitznamen »Die Unglaublichen«. »Ihr seid eine so erstaunliche Familie«, sagten sie uns vor und nach unserem Unglück. In diesem Augenblick, mit der
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