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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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Federführung für die gesamte ARD-Berichterstattung aus Vancouver in Radio, Fernsehen und Internet. Das hätte zwanzig Jahre zuvor auch noch keiner für möglich gehalten, dass der neu gegründete Sender im Osten anstelle des mächtigen Bayerischen Rundfunks dieWinterberichterstattung übernehmen würde. Tatsächlich war das die größte Herausforderung seit Gründung des MDR. Die Übertragungen waren erstmals trimedial organisiert, also aus einer Hand für Fernsehen, Hörfunk und Internet, und sie liefen im Fernsehen ebenfalls erstmals komplett im neuen HD-Standard mit gestochen scharfen Bildern (»Kati Witt – scharf wie nie«) und haben damit eine neue Fernsehepoche eingeläutet. Unter der Leitung des damaligen Sportchefs Wolf-Dieter Jacobi hat unsere junge Mannschaft diese Herausforderung mit Bravour bewältigt. Später habe ich Jacobi zum Fernsehdirektor gemacht.
    Auch eine andere Programmgeschichte ist mir in Erinnerung geblieben. Vor den Landtagswahlen im August 2009 in Sachsen und Thüringen sollten Angela
     Merkel und Frank-Walter Steinmeier im MDR-Fernsehen interviewt werden. Allerdings Merkel eine Woche vor der Wahl und Steinmeier eine Woche danach. Bei
     aller Liebe, das ging nun wirklich nicht. Weil es aus Termingründen keine andere Lösung gab, entschied ich, die Bundeskanzlerin wieder auszuladen. Das ist
     mir sehr schwergefallen, so geht man mit der Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland nicht um. Aber aus Gründen der elementarsten journalistischen
     Fairness blieb mir keine Wahl. »Reiter feuert Merkel«, titelte daraufhin eine Thüringer Zeitung. Der »Spiegel« fand, es war »eine politisch einsame
     Entscheidung, journalistisch aber die richtige«. Ich habe mich in aller Form bei Angela Merkel für diese Panne entschuldigt.

»A man should know when to leave the party …«
    Ich habe diesen Satz einmal in einer John-le-Carré-Verfilmung gehört. Aus irgendeinem Grund ist er mir in Erinnerung geblieben. Er passt zu einem anderen Satz, denmein alter Kollege Jobst Plog, der frühere Intendant des Norddeutschen Rundfunks, am Rande einer zähen und langen ARD-Hauptversammlung in einem Lift des Bremer Parkhotels einmal zu mir sagte: »Udo, wir machen das schon zu lang.« Auch dieser Satz ist mir in Erinnerung geblieben.
    Dieses Gefühl, dass es reicht, hatte sich in den letzten Jahren erst ganz behutsam angemeldet und dann von Jahr zu Jahr verdichtet. Man bringt zum
     zwanzigsten Mal den Haushalt ein und versichert den Rundfunk- und Verwaltungsräten, dass der MDR im Kern solide finanziert sei, man reist zum hundertvierzehnten Mal auf ein ARD-Treffen, kümmert sich um mehr oder weniger bedeutende »Gemeinschaftsaufgaben« und sieht zu, dass man im Protokoll mit einer bemerkenswerten Wortmeldung verzeichnet ist, man eröffnet zum achtzehnten Mal mit einer launigen Rede den MDR-Musiksommer, und man fängt jeden Montag um elf die neue Woche mit einer Direktorensitzung an – alles prima, alles wichtig, alles nette Leute, aber irgendwie kennt man es dann schon. Lauter Déjà-vu-Erlebnisse, ewige Wiederkehr. »Udo, wir machen das schon zu lang.« Dazu kam bei mir, dass fünfundvierzig Jahre im Rollstuhl natürlich nicht ohne gesundheitliche Kratzer vorübergegangen sind. Über ein paar gravierende Probleme habe ich ja schon berichtet. Dazu kam ein sozusagen alltäglicher Verschleiß. Durch das ständige Sitzen wurde meine Wirbelsäule, die nach dem Unfall etwas schief zusammengewachsen war, immer noch krummer und schmerzte entsprechend, durch das Antreiben des Rollstuhls nutzten sich die Handgelenke ab und schmerzten auch, das Verhältnis von Kraft zu Masse verschob sich immer mehr zugunsten der Masse, und der Rest wurde auch nicht besser, davon kann jeder über sechzig, ob mit oder ohne Rollstuhl, ein Lied singen. Nur dass sich bei einem Rollstuhlfahrerjede Schwäche, jeder Kontrollverlust gleich existentiell niederschlägt. Wenn seine Fähigkeit, sich in ein nicht ganz passendes Hotelbett oder auf eine etwas schlecht platzierte Kloschüssel zu hieven, nachlässt, werden Dienstreisen zu Abenteuerausflügen, und am Ende bleibt er lieber zu Hause. Und wenn er ohne fremde Hilfe nicht mehr so recht ins Auto kommt, wird sogar der ganz gewöhnliche Weg ins Büro zur Last. Wie gesagt, das alles kommt nicht von heute auf morgen, aber es kommt und verdichtet sich zu dem oben genannten Gefühl, dass es genug sei.
    Unterstützt wurde dieses Gefühl durch Klimaveränderungen in meiner Umgebung. Meine früheren
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