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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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mich fast für mein Leben traumatisiert. Dabei fing es gut an. Die Lehrerin hieß Fräulein Klingler und machte einen resoluten mütterlichen Eindruck. Sie erzählte uns, was wir nun alles lernen würden. Das klang vielversprechend, bis sie plötzlich verlangte, dass jetzt jeder Einzelne etwas vorsingen sollte. Mir schoss das Blut in den Kopf. Das war das Ende! Ich konnte absolut nicht singen. Alles, was aus meiner Kehle kam, war Missklang. Und meine Eltern, pädagogisch feinfühlig, hatten mir das bei jeder Gelegenheit eingebläut. Man kann sich das heute, wo auf Kinder und ihre Stärken und Schwächen meist liebevoll eingegangen wird, nicht mehr recht vorstellen. Aber ich geriet damals in Panik und dachte wirklich, dass das Fräulein Klingler mich jetzt gleich empört unter dem Hohngelächter der anderen vor die Tür jagen würde. Gerettet hat mich nur die Größe der Klasse. Wir waren fünfundvierzig Kinder, und die Zeit reichte nicht zum Vorsingen für alle. Aber der Schreck saß tief, und das Singen ist bis heute eine Schwachstelle in meinem Leistungsspektrum und in meiner Psyche. Die Tatsache, dass ich es trotzdem laut und gern tue, kann ich mir nur als Versuch einer Überkompensation erklären.
    Natürlich gab es auch schönere Erlebnisse in der Reutiner Volksschule. Da war zum Beispiel ein kleines sanftes Mädchen, das Marion Brockhaus hieß. Sie trug meist eine gestrickte hellgraue Trachtenjacke mit einem roten Rand und silbernen Knöpfen. Ich war furchtbar in sie verliebt, das erste Mal in meinem Leben. Die Marion wohnte in Lindau-Zech. Das war, wenn man nach Rickenbach musste, ein ziemlicher Umweg. Aber ich begleitete sie, wannimmer es ging, nach Hause. Das heißt, ich lief verlegen neben ihr her. Viel zu bieten hatte ein siebenjähriger Bub damals nicht. Ich pflückte immer Haselnüsse, machte sie auf und brachte ihr die Kerne mit. Wenn sie mich dann anlächelte und die Nusskerne aß, war ich glücklich. Ihre Familie ist schon kurz darauf aus Lindau weggezogen, und ich habe sie aus den Augen verloren. Einige Jahrzehnte später bin ich ihr dann in Leipzig wiederbegegnet. Nicht zufällig. Sie war nämlich nicht irgendeine Marion Brockhaus, sondern eine Nachfahrin des berühmten Leipziger Enzyklopädie-Verlegers Heinrich Brockhaus. Nach der Wende besuchte sie die Stadt ihrer Väter und hat 2004 zusammen mit ihrem Mann, dem Kunsthändler Hans-Peter Bühler, dem neu erbauten Leipziger Bildermuseum einundvierzig Bilder französischer Maler geschenkt, darunter Werke von Delacroix, Degas und Monet. Ich habe ihr bei dieser Gelegenheit meine frühe Liebe gestanden. Sie war gerührt, konnte sich aber an die Haselnüsse nicht mehr erinnern. In der Eingangshalle des Leipziger Bildermuseums gibt es ein großes Mosaik mit den Portäts der Stifter. Dort kann man sie sehen.
    Meine musikalische Karriere wurde später im Gymnasium mit dem Musikunterricht bei Alfred Kuppelmayer fortgesetzt, einem begabten Musiker, der auch selbst komponierte. Seine »Frühlingkantate« wurde sogar vom Süddeutschen Rundfunk produziert. Bei Alfred Kuppelmayer hatten wir Musikgeschichte und Kompositionsunterricht. Das lag mir. Ich schrieb mehrere Einser. Sie sollten mir aber nichts helfen. Studienrat Kuppelmayer ließ mich am Ende des Jahres zu sich kommen und sagte, dass er mir nach Zensurlage eigentlich eine Eins geben müsste, dass sich in ihm aber alles sträube, jemandem, der so falsch singe, eine solche Musiknote ins Abschlusszeugnis zu schreiben. Ob ich nicht auch mit einer Zwei einverstandenwäre? Ich dachte an Fräulein Klingler und mein damaliges Glück und sagte Ja.
    Dabei war meine Familie durchweg musikalisch, alle spielten ein Instrument. Mein Bruder Fagott, meine Mutter Harmonium und mein Vater – jawohl, Zither. Irgendwann in seiner Jugend muss es da fröhliche Abgründe gegeben haben. Und manchmal, ganz selten, wenn die Stimmung besonders günstig war, konnten wir ihn dazu bewegen, das Instrument vom Dachboden zu holen und uns etwas vorzuspielen. Er hat dann mit merkwürdig versonnenem Blick die Zither erst endlos lang gestimmt – und dann tatsächlich gespielt, und zwar ein Repertoire, das kein Mensch bei ihm vermutet hätte: das Kufsteiner Lied, des Försters Töchterlein, den Königsjodler und einiges mehr aus dieser Ecke. Ich halte dieses Liedgut meines Vaters noch immer in Ehren. Mein Freund Thomas Gruber, der ehemalige Intendant des Bayerischen Rundfunks, hat mich dabei in den letzten Jahren nach Kräften unterstützt.
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