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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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kam dann aber doch nicht ganz so schlimm. Ich habe zu meinem Bruder, der heute ein angesehener Orthopäde in Österreich ist, ein sehr herzliches Verhältnis und bin froh, dass er da ist. Seine Tochter Veronika ist mein Patenkind.
    Wir haben uns viele Jahre ein Zimmer geteilt, das keinen Wasseranschluss hatte und nicht zu heizen war. Im Winter waren morgens immer Eisblumen an den Fensterscheiben, in die man ein Loch hauchen konnte. Wir trugen kurze Hosen und lange braune Wollstrümpfe, die mit Gummibändern an einem Leibchen gehalten wurden. Die Schuhe wurden beim Schuster Taubenberger gekauft. Ich bekam die neuen, mein Bruder musste sie auftragen. Das war nicht der einzige Nachteil, der ihm aus der Tatsache erwuchs, dass ich fünf Jahre älter war. Ich habe meinen Alters- und Kompetenzvorsprung offenbar auch hierarchisch eingesetzt und den Jüngeren mit Dominanzansprüchen gequält. Das ist einmal so weit gegangen, dass er empört ein Brotmesser nach mir geworfen und meinen Kopf nur um wenige Zentimeter verfehlt hat. Im Gymnasium, das hat er mir viele Jahre später gestanden, hat es ihn verletzt, wenn die Lehrer zu ihm sagten: »Ach, Sie sind der Bruder vom Reiter.« Er wollte natürlich selber der Reiter sein. Aber das ist alles überstanden, und gelegentlich hat er auch von mir profitiert. So habe ich bei unserem Vater fraglos Eisbrecherarbeit geleistet. Viele Vergehen, die bei mir noch zu Zornesausbrüchen und Strafaktionen führten, hat er ihm schon durchgehen lassen. Einmal hatte ich zum Beispiel eine Fünf in Mathematik. Zwei Tage lang habe ich mich nicht getraut, es ihm zu gestehen. Als ich mich endlich aufraffte, stand er gerade vor dem Küchenspiegel und hat sich rasiert. Er war über die Mitteilung so erschrocken, dass er sich mit dem Rasiermesser in den Hals schnitt. Ich sehe noch heute vor mir, wie das rote Blut über den weißen Rasierschaum herunterlief. »Ich habs ja geahnt«, rief er, »das konnte nicht gut gehen!« Am nächsten Tag ging er zu Herrn Neumerkl, dem Mathematiklehrer, in die Sprechstunde und wollte mich vom Gymnasium nehmen, weil ich doch offensichtlich ungeeignet sei. So etwas hat er bei meinem Bruder nicht mehr gemacht. Oder die religiösen Dispute, als ich langsam lernte, wie man sein christliches Weltbild mit gezielten naturwissenschaftlichen und philosophischen Fragen attackieren konnte. Einmal wurde er dabei so wütend, dass er sich zu dem Ausruf hinreißen ließ: »Es reut mich, was ich Haar auf dem Kopf hab, dass ich dich zu denen hineingeschickt hab.« Diese Fundamentalkritik an der gymnasialen Ausbildung gab es bei Rolandauch nicht mehr. Seinen Frieden hat er aber auch nicht mit ihr gemacht. Als mein Vater einmal zufällig davon hörte, dass Goethe mit über siebzig noch eine Beziehung zu der jungen Ulrike von Levetzow anfing, sagte er verächtlich: »Neben so einen würde ich mich als gewöhnlicher Prolet nicht hinstellen.« Auch die tief sitzende Wissenschaftsfeindlichkeit gläubiger Menschen, die durch wissenschaftliche Argumentation instinktiv ihr religiöses Weltbild gefährdet fühlen, war bei ihm lebenslang spürbar. Sie äußerte sich mitunter in kuriosen Kleinigkeiten. So hing in einer Dornier-Werkshalle der Spruch »Nach unseren Berechnungen dürfte die Hummel nicht fliegen. Aber sie fliegt doch!« Diesen Satz zitierte er oft und gern als Beweis für die Unzuverlässigkeit wissenschaftlichen Denkens und die Existenz tiefer liegender Wahrheiten. Wenn ich dann sagte, »Wahrscheinlich haben sie nur falsch gerechnet«, konnte er sehr ärgerlich werden. Auch wenn der Wetterbericht im Radio nicht ganz richtig lag, empfand er das als Bestätigung für sein Weltbild. »Wenn sie doch wenigstens zum Fenster hinausschauen würden!«, sagte er dann höhnisch. Aber der Reihe nach.

Singe, wem Gesang gegeben
    Als mein Bruder auf die Welt kam, wurde ich sechs. Das hieß, ich kam in die Schule. Die Volksschule für die Rickenbacher Kinder war im Lindauer Stadtteil Reutin, ungefähr sechs Kilometer von Rickenbach entfernt. Natürlich wurde gelaufen. Hin und zurück, im Sommer und im Winter, je eine gute halbe Stunde. Meist ging ich zusammen mit dem Zacher Roland und dem Spieß Oskar, das hatte dann wenigstens einen gewissen Unterhaltungswert. Die Mädchen gingen separat, die frühere Nähe war inzwischeneiner gewissen Entfremdung gewichen. Sie waren jetzt blöde Dinger, die man höchstens noch an den Zöpfen ziehen konnte.
    An den ersten Schultag erinnere ich mich noch genau. Er hat
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