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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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ungewöhnliche Erziehungsmethoden angewandt. Einmal – an das Delikt kann ich mich nicht mehr erinnern – sollte ich des Hauses verwiesen werden. Das war natürlich nicht ernst gemeint, aber mit meinen vier oder fünf Jahren habe ich es geglaubt. Weil mein Vater auf die Schnelle die Hosenträger nicht gefunden hat, hat er mir die Hose mit einem Strick zugebunden und mich los geschickt. Ich kann mich noch heute erinnern, was er dabei sagte: »Geh fort. Dann bist du ein armes Waisenbüble, hast keine Mama und keinen Papa mehr, alle schubsen dich weg, keiner will dich.« Mir sind die Tränen die Wangen runtergelaufen, bis schließlich meine Mutter eingegriffen und mit einem energischen »Schluss jetzt!« dem Ganzen ein Ende gesetzt hat.
    Ich weiß, dass man solche pädagogischen Bemühungen heute eher skeptisch beurteilt und dass es vor allem gegen körperliche Züchtigung ernsthafte Einwände gibt. Ich habe meine eigene Tochter auch anders erzogen (wenn überhaupt). Es ist leicht, sich heute vom hohen Ross des aufgeklärten Intellektuellen über die früheren Methoden zu entrüsten, und ich will sie auch nicht verteidigen, aber manchmal frage ich mich schon, wenn ich die Ergebnisse unserer liberalen Erziehung sehe, ob der heutige pädagogische Hochmut wirklich so berechtigt ist. Wir wussten als Kinder immerhin, was gut und was schlecht war, was man tun durfte und was nicht. Und dass es Konsequenzen hat, wenn man die Grenzen des Erlaubten überschreitet. Zumal, das darf man nicht übersehen, die Härte ja nur eine Seite dieser Erziehung war. Die andere Seite war Fürsorge,Zuständigkeit und Verlässlichkeit. Wir wussten, wo wir hingehörten und dass man im Ernstfall für uns da war. Dass dabei etwas mehr Zärtlichkeit und offen gezeigte Zuneigung nicht geschadet hätte, will ich gern einräumen. Ich kann mich beispielsweise nicht erinnern, dass meine Mutter mich je geküsst oder auch nur in den Arm genommen hätte. Auch dass meine Eltern sich einmal umarmt hätten, habe ich nie gesehen. Das galt im pietistischen Arbeitermilieu dieser Zeit als unangemessene Frivolität.
    Dennoch hatte auch die strenge Religiosität meines Vaters, die in ihrer Engherzigkeit und Verbohrtheit weiß Gott abschreckend war, ihre positiven Seiten. Ich bin zum Beispiel ziemlich bibelfest, und diese Bibel ist ein wunderbares Buch, das, von jeder Religiosität abgesehen, zu Recht zum kulturellen Erbe der Menschheit gehört. Die Begegnung mit diesem Kulturerbe verdanke ich der bornierten religiösen Zwangsausübung meines frommen Vaters – den vielen Samstagabend-Lesungen am Küchentisch und den endlosen Predigten in seiner Kirche. Noch heute wundern sich Leute, die das nie bei mir erwarten würden, über meine guten Bibelkenntnisse. (Zum Glück in der alten Luther-Übersetzung!) Aber auch darüber hinaus: Ich kann nicht finden, dass mir das enge religiös-moralische Korsett, in dem ich aufgewachsen bin, geschadet hat. Allein die Möglichkeit, als Jugendlicher diese Fesseln zu sprengen, als Gymnasiast Nietzsche zu entdecken und das Christentum in gymnasialem Überschwang als Sklavenreligion zu enttarnen, war die Mühe der religiösen Erziehung wert. Ich bin meinem Vater jedenfalls im Nachhinein eher dankbar für das, was er an mir getan hat. Und manchmal frage ich mich, ob ich mein späteres Schicksal ohne diese drakonische Erziehung genau so bewältigt hätte.

Der Bruder vom Reiter
    Zurück in den Mühlweg. Weihnachten 1949. Irgendetwas kündigte sich an. Als ich am Weihnachtsmorgen wach wurde, war nur mein Vater da. Der geschmückte Baum stand im Wohnzimmer. Wo ist denn die Mama? »Wir fahren in die Stadt«, war seine Antwort. Ich wusste nicht, was das sollte, und war vollkommen verwirrt. Zwar hatte man mir seit einiger Zeit ein merkwürdiges Gebet beigebracht: »Lieber Gott, schenk mir doch ein Brüderchen«, aber dass das so konkret würde und noch dazu an Weihnachten, wer sollte das voraussehen. Langsam bekam ich mit, was passiert war: Das Gebet war erhört worden. Im Elisabethenheim auf der Insel kam am 25. Dezember mein Bruder auf die Welt. Roland sollte er heißen. Äußerst problematisch wurde es, als er ein paar Tage später nach Hause in den Mühlweg geholt wurde. Alle waren da, Vater, Mutter, Oma, Opa, und standen um den Neuankömmling herum. Ich hockte unterm Küchentisch und dachte: »Das wars, jetzt ist es vorbei. Jetzt kümmern sie sich bloß noch um den.« Das war die erste Erfahrung von Verlassensein in meinem jungen Leben. Es
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