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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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»Wächterstimme«, einem neuapostolischen Kirchenblättchen, das früher einmal »Wächterstimme Zions« geheißen hatte, aber in der NS-Zeit titelbereinigt wurde. Noch heute höre ich seine Stimme, und bis heute kann ich schwer ertragen, wenn mir jemand etwas vorliest. Vaters Frömmigkeit war verbunden mit einer militanten Lustfeindlichkeit. Ich durfte zum Beispiel nicht auf den Jahrmarkt und nicht ins Kino. Das hielt er für Teufelswerk. Einmal war in Reutin ein Radrennen. Da wollte ich hin zuschauen. Mein Vater rief mich in die Küche, schaute mich ernst an und fragte, ob ich nicht wüsste, wo der zwölfjährige Jesushingegangen sei: »In den Tempel, nicht zum Radrennen.« Ich bin trotzdem hingegangen, aber mit sehr schlechtem Gewissen.
    Meine Mutter war weniger fromm, aber sie hat dem religiösen Wahn ihres Mannes keinen Widerstand geleistet. So etwas war damals nicht vorstellbar. Sie war Hausfrau. Sie kümmerte sich darum, dass das Essen mittags und abends pünktlich auf dem Tisch stand, immer zehn Minuten nach dem Sirenensignal, das bei Dornier die Mittagspause oder den Feierabend ankündigte. Sie sorgte für eine saubere Wohnung, saubere Wäsche und saubere Kinder. Und dass es dem Mann gut ging. Ein übliches deutsches Frauenleben im Kleinbürgermilieu der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Ins Leere laufen ließ sie ihn manchmal trotzdem. Und behutsam korrigiert hat sie ihn auch. Das war möglich. In der Neuapostolischen Kirche war es zum Beispiel Pflicht, zehn Prozent des Einkommens in den Opferkasten zu legen, also der Kirche zu spenden. »Den Zehnten«, wie es im Alten Testament hieß. Verwaltet hat das gesamte Geld bei uns meine Mutter, sie war also auch für das »Opfer« zuständig. Ich bin ziemlich sicher, dass sie diesen Zehnten nur offiziell in den Opferstock legte und in Wirklichkeit regelmäßig ein paar Mark für die Familie abzweigte. Als ich sie viele Jahre später einmal danach gefragt habe, ist sie rot geworden.

»Benimm dich, sonst kommt der Schlauch«
    Auch in der Kindererziehung waren sich meine Eltern nicht immer einig. Dass damals streng erzogen wurde, auch mit Schlägen, war selbstverständlich. Das galt in der Familie ebenso wie später in der Schule. Aber was die Intensität der Strafaktionen betraf, war meine Mutter deutlichzurückhaltender und fiel dem Vater gelegentlich in den Arm, und zwar buchstäblich. Wenn ich etwas angestellt hatte, hat mein Vater vom Küchenschrank ein Stück Gartenschlauch genommen, das eigens zu diesem Zweck dort aufbewahrt wurde, und mich damit durchgehauen. »Benimm dich, sonst kommt der Schlauch«, war eine feste Redewendung bei uns. Auch wenn man die Wirkung von Abschreckung in der modernen Strafrechtsdiskussion bestreitet, glaube ich schon, dass die Schlauchandrohung manche Untat präventiv verhindert hat. Wir waren jedenfalls ziemlich brave Kinder. Wenn es zu einer Bestrafung kam, hat mein Vater mich meist übers Knie gelegt und auf den Hintern geschlagen. Zu seiner Ehrenrettung muss ich aber sagen, dass es immer einen Grund dafür gab. Entweder ich war frech, oder ich hatte mutwillig etwas kaputt gemacht. Einfach drauflosprügeln, wie es in anderen Familien vorkam, vor allem wenn die Väter betrunken waren, das wäre mit seinem protestantischen Ethos nicht vereinbar gewesen. Einmal, das war der schwerste Fall, hat er mich am Arm gepackt und mit dem Schlauch auf meine Rückseite eingeschlagen. Ich habe gebrüllt und bin an seiner Hand im Kreis herumgelaufen. Er schlug weiter, immer noch eine Runde, bis ich so grün und blau war, dass ich danach eine Woche lang nicht zum Schwimmen gehen konnte. Das ging sicher ein bisschen weit, aber meine »Tat« war auch nicht ohne: Es war Sonntag Vormittag, man war wie üblich in der Kirche, aber aus irgendeinem Grund, vielleicht waren zu wenig Plätze da, musste ich diesmal draußen bleiben und die eineinhalb Stunden warten, bis der Gottesdienst vorbei war und die Eltern wieder herauskamen. Mir war langweilig, und ich begann aus den zahlreichen Fahrrädern, die die Glaubensbrüder vor der Kirche abgestellt hatten, die Luft abzulassen. Das hat so schön gepfiffen. Aber dann war mir immer noch langweilig, undich habe – der Teufel muss mich geritten haben – die Ventile aus den Fahrradreifen herausgedreht und sie im hohen Bogen weggeworfen. Als die Gläubigen schließlich aus der Kirche herauskamen und nach Hause radeln wollten … Ich muss nicht weiter erzählen.
    Auch sonst hat mein Vater mitunter
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